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Mein Blick wandert von meinem Cousin zu Rico, welcher meine größte Chance auf Erfolg zu sein scheint, doch bevor ich das überhaupt aussprechen kann, räuspert Léon sich viel zu dramatisch.

Ich sehe ihn genervt an, als er theatralisch mit der flachen Hand auf seine Brust schlägt, dann viel zu offensichtlich zu Nathaniel zeigt und dabei auch noch denkt, diskret zu sein.

Langsam drehe ich meinen Kopf zur Seite und blicke Nathaniel neutral an, bis mir auffällt, dass er eine viel bessere Wahl wäre, als Rico es jemals sein könnte.

Doch der Blick, welchen Nathaniel auf dem Gesicht trägt, während er seinen Freund betrachtet, lässt mir einen kalten Schauer über den Rücken fahren.

"Nathaniel?", frage ich, aber bekomme keine Reaktion.

Stattdessen starrt er Léon an, als würde er gerade allen Ernstes in Betracht ziehen, ihm die Haut von den Knochen zu ziehen.

Vorsichtig lege ich ihm die Hand auf den Arm, doch plötzlich zuckt er bei meiner Berührung kaum merklich zusammen.

"Nathaniel", versuche ich es ein weiteres Mal, doch er zieht die Nase kraus, als würde ihm nicht passen, wie ich seinen Namen ausspreche.

"Wenn du mich jetzt darum bittest, dich zu heiraten, um deinen Vater zu stürzen, glaube ich nicht, dass ich dir das verzeihen kann, Amara."
Mein Herz beginnt in meiner Brust zu schmerzen, weil er so klingt, als würde er gerade leiden.

Ich lasse meine Hand an seinem Arm entlang wandern und greife nach seiner Hand, ehe ich meine Finger fest um seine schließe.

"Aber du würdest mir die bitte nicht ausschlagen, richtig?", frage ich mit zittrig er stimme, weil ich befürchte, er könnte wirklich ablehnen.

Diese Option scheint gerade meine einzige und zugleich beste Chance zu sein, endlich mal etwas in meinem Leben zu erreichen.

Mit einem Mal zieht Nathaniel seine Hand aus meiner und steht auf, nur um sich an Léon zu richten und ihn voller Abneigung zu betrachten.

"Geh nach Hause, bevor ich dir den verdammten Hals breche, Leonardo", knurrt er und dreht sich sofort darauf um, nur um den Raum zu verlassen.

Mein Blick wandert zu Léon, welcher salutiert, als wäre gerade überhaupt nichts Schlimmes passiert, während ich mich so fühle, als hätte ich gerade all die Fortschritte, die ich in letzter Zeit mit Nathaniel gemacht habe, einfach so ruiniert.

Léon steht auf und atmet scharf ein, doch bevor er sich umdrehen und tatsächlich gehen kann, springe ich auf, sodass mein Stuhl über den Boden knarzt und damit ein schreckliches Geräusch verursacht.

"Was zur Hölle war das, Léon?", frage ich und sorge damit dafür, dass er sich tatsächlich wieder in meine Richtung dreht.

Er betrachtet mich ziemlich überrascht, doch dann sieht er zu den anderen beiden, weshalb ich seinem Blick folge.

Auch die anderen beiden blicken mich ziemlich überrascht an, als wäre ich gerade die einzige anwesende, die überhaupt nicht versteht, was hier gerade passiert.

"Er liebt dich, Amara", kommt es von Rico, weshalb ich nicke, da es noch keine zwei Stunden her ist, dass Nathaniel mir das persönlich gesagt hat.

"Er liebt dich so sehr, dass er seit Monaten darauf wartet, dich endlich dazu zu bringen, seine Gefühle zu erwidern."
Nun blicke ich Léon ziemlich perplex an, weil ich so noch nie darüber nachgedacht habe.

Sonst habe ich es immer als Nathaniels kranke Obsession mir gegenüber betrachtet.

"Um dich endlich zu seiner Frau zu machen, Amara. Er hat dich zwar seit Jahren im Auge, aber darauf wartet er seit Monaten. Seit er sich darüber klar geworden ist, wie sehr er dich eigentlich liebt."
Meine Hände, meine Knie, meine Lippen...

Alles zittert.

Perplex sehe ich von Léon zu Rico und Avion, doch die beiden wirken plötzlich auch total perplex.

Avion wirkt sogar fasziniert.

Mein Herz schmerzt in meiner Brust, als ich realisiere, was ich gerade überhaupt getan habe.

Für mich mag es vielleicht den Erfolg bedeuten, endlich gegen meinen Vater gewonnen zu haben, doch für Nathaniel bedeutet es so viel mehr.

Er war nie von mir besessen, weil ich seinen Bruder umgebracht habe und er war auch nicht nur von mir besessen, weil er so von mir fasziniert war.

Er ist von mir besessen, weil er mich liebt.

Bedingungslos.

"Ich sollte gehen, bevor er mich dieses Mal wirklich umlegt", murmelt Léon und wirkt plötzlich wirklich entschlossen, dass Nathaniel so weit gehen würde.

"Du solltest dir endlich darüber klar werden, dass auch du inzwischen Gefühle für ihn entwickelt hast", sagt Léon und fährt sich mit den Fingern durch sein Haar, ehe er zu lächeln beginnt.

"Denn auch, wenn ihr beide in der Hinsicht einfach nur blind seid, sind wir es nicht. Briana war die erste, die es bemerkt hat", erklärt er amüsiert, ehe er sich umdreht und tatsächlich geht.

Ich hingegen bleibe wie angewurzelt hier stehen und habe keine Ahnung, was ich machen soll.

Diese neuen Informationen sind schmerzhaft und ergeben trotzdem so viel Sinn.

"Irgendwie bin ich nicht damit zufrieden. Der Kerl will sie doch nur besitzen", unterbricht Rico die Stille, doch auch jetzt rühre ich mich nicht und starre an die Stelle, an welcher Léon bis eben noch gestanden hat.

"Er will sie nicht besitzen, als wäre sie ein Tier oder ein wertloser Gegenstand, Rico. Nathaniel will Amara besitzen, weil sie in seinen Augen das wertvollste auf der ganzen Welt darstellt. Er liebt sie nicht. Er ist nicht von ihr besessen. Nathaniel Santos atmet, isst, schläft und lebt, weil Amara in seinem Leben ist. Er wird von ihr verzehrt."
Die Worte meines Cousins dringen schneller zu mir hindurch, als es die Realisation tut und plötzlich richte ich meine glasigen Augen auf ihn.

Er hebt den Blick, als er meinen auf sich spürt, sodass wir einander in die Augen sehen.

Mein Herz bricht, als ich beginne zu verstehen, warum er nicht dazu in der Lage war, jemals den Befehl meines Vaters auszuschlagen.

Avion hat jemanden, den er so sehr liebt, dass er alles dafür tun würde, um diese Person zu beschützen.

"Stellst du mir diese Person irgendwann mal vor?", frage ich ihn mit belegter Stimme und schon beginnt er zu lächeln.

Ich muss ihm nicht erklären, dass ich es geschafft habe, sein Geheimnis zu lüften, ohne Hilfe dabei bekommen zu haben, denn Avion versteht es bereits.

Dann nickt er.

"Wenn alles vorbei ist, hoffe ich darauf, dass wir einander näher kennenlernen können", erklärt er plötzlich, sodass die erste Träne tatsächlich über meine Wange rollt.

Habe ich mich in all den Jahren so sehr darauf konzentriert, so von meiner Familie gehasst zu werden, dass ich nie wirklich realisiert habe, wie sehr ich von anderen Menschen eigentlich wertgeschätzt werde?

War es deshalb so schwer für mich, zu erkennen, dass Nathaniel mich liebt?

"Geh zu ihm, Prinzessin", unterbricht Rico plötzlich die Stille, weshalb ich zu ihm sehe.

Sein Blick ist voller Wärme und voller Wertschätzung auf mich gerichtet, sodass ich tatsächlich schluchzen muss.

Ich nicke, wische mir die ersten Tränen aus dem Gesicht, kann jedoch nicht verhindern, dass weitere hinterherlaufen.

Kurz werfe ich noch einen letzten Blick auf die beiden Männer, die als einzige noch aus meiner Vergangenheit bei mir sind und nicke dann selbstbewusst, ehe ich den Raum verlasse und in den Flur gehe, um zu Nathaniel zu gehen.

Passionate VengeanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt