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Während ich mich um Avions Verletzungen kümmere, denke ich viel zu stark über die gesamte Situation nach.

Zu wissen, dass Avion nun auch auf der Abschussliste meiner Familie steht, ist kaum zu fassen und doch so verdammt vorhersehbar.

Nathaniel hat ihn vor drei Tagen hierher bringen lassen, was bedeutet, dass meine Familie seither nichts mehr von ihm gehört hat.

Drei Tage, in denen Avion sich nach dem neuen Auftrag nicht mehr bei ihnen gemeldet hat.

Sie denken inzwischen sicher alle, dass ich es geschafft habe, Avion auf meine Seite zu ziehen, was bedeutet, dass er jetzt ebenfalls eine Gefahr für den Plan meines Vaters darstellt.

Auch bei ihm werden sie nicht mehr zögern.

Sie sehen ihn als einen Verräter an.

"Was haben sie gegen dich in der Hand?", traue ich mich nach all den Jahren endlich zu fragen.

Wahrscheinlich liegt es an der Tatsache, dass ich seine Wunden versorge.

Oder vielleicht auch daran, dass wir nun beide von unserer Familie als Feinde angesehen werden.

Ich sehe flüchtig zu seinem Gesicht auf, behalte meinen Kopf jedoch gesenkt, um sofort wieder zu seinen Verletzungen zu blicken.

"Es ist nicht so, als hätten sie wirklich etwas gegen mich in der Hand. Sie wissen nur, dass es jemanden gibt, der ein Geheimnis über mich kennt", erklärt er, ohne wirklich zu hinterfragen, warum ich diese frage überhaupt gestellt habe.

Es reicht schon, wenn es in unserer Familie nur einen Brotkrumen gibt, der auf etwas hinweist, dass man gegen den jeweils anderen verwenden kann, um ihn zu seiner eigenen Marionette zu machen.

"Wird die Person jetzt in Gefahr sein?", frage ich leise und Decke zögerlich seinen Körper mit meiner Decke ab, ehe ich ihn vollständig betrachte.

Er sieht so schrecklich aus.

Aber wenigstens sind seine Wunden jetzt alle versorgt.

Trotzdem muss ich ihm noch frische Kleidung besorgen, doch ich bezweifle, dass Nathaniel mir dabei helfen wird.

"Sie haben ihn ganz sicher schon, Mara", atmet er laut aus, so als würde es ihn mehr als nur bedrücken.

"Und wenn nicht? Könntest du die Person vorwarnen?", frage ich, während ich ihm eine schwarze und verschwitzte Strähne aus der Stirn wische.

"Kannst du ihn anrufen? Bei mir besteht die Chance, dass ihn mein Anruf nicht interessiert. Wenn du ihn jedoch anrufst, ist es ganz sicher anders", erklärt er, was mich ziemlich verwirrt.

Ich ziehe die Brauen zusammen und nehme mein Handy vom Nachttisch.

"Wenn du mir eine Nummer gibst, kann ich anrufen, wen auch immer du willst", versichere ich ihm und blicke dabei auf mein Display.

Einen Moment bleibt es still, doch dann gibt er mir eine Nummer, die ich ziemlich konzentriert in mein Handy tippe.

"Das war alles?", frage ich und sehe wieder kurz zu ihm auf, doch er behält weiterhin die Augen geschlossen.

"Ja. Ruf ihn einfach an", sagt er und wirkt dabei so unglaublich schwach.

Ich nicke, auch wenn er das gerade nicht sehen kann, stelle mich dann hin und Decke ihn noch einmal richtig zu.

"Schlaf etwas. Ich kümmere mich darum", sage ich und gehe dann sofort zur Tür.

"Mara", sagt er plötzlich, als ich gerade meine Hand um die Klinke gelegt habe, also drehe ich mich zu ihm um.

"Nichts davon ist deine Schuld", flüstert er schon fast, ehe ich mit ansehen kann, wie seine Atmung etwas gleichmäßiger wird.

Ich zögere und sehe ihn noch einen Moment lang an, doch dann verlasse ich mein Zimmer und ziehe die Tür hinter mir ins Schloss.

Sofort darauf sehe ich auf mein Display und drücke den grünen Knopf, ehe ich mein Handy an mein Ohr halte.

Aufmerksam lausche ich dem Freizeichen und warte darauf, dass die Person endlich den Anruf annimmt.

"Russo?", höre ich eine bekannte Stimme mit seinem eigenen Nachnamen und einem starken Akzent antworten.

"Rico", stelle ich plötzlich mit einem ebenso starken Akzent fest.

Mir ist bereits klar, dass wir beide von nun an nur noch auf Italienisch sprechen werden.

Er, weil er es aus Gewohnheit bei Telefonaten tut und ich, weil mir der Gedanke nicht gefällt, dass einer in diesem Haus lauschen könnte.

"Amara?", fragt er am anderen Ende und schon atme ich frustriert aus.

Wieso muss es ausgerechnet Rico sein, der in Gefahr ist?

Er ist der beste Freund meines Bruders, was bedeutet, dass Vater wahrscheinlich Emanuel selbst auf ihn ansetzen wird.

"Bist du gerade alleine?", frage ich ihn weiterhin auf Italienisch.

Er steigt sofort mit ein und scheint es nicht infrage zu stellen.

"Bin ich. Womit kann ich dienen?"

"Wo bist du, Ricardo?", frage ich ihn ernst und nutze dabei absichtlich seinen vollen Namen, um ihm den Ernst der Lage zu vermitteln.

"Nicht im Lande, wieso? Brauchst du Hilfe? Bist du in Gefahr?", fragt er sofort besorgt, was mich etwas zum Lachen bringt.

"Meine Familie will meinen Tod, Ricardo. Und von dir wird sie bald Informationen wollen. Sie werden dich holen kommen, sobald sie die Möglichkeit dazu haben. Wieso musst du immer irgendwelche Informationen über jemanden haben?", frage ich ihn frustriert, als ich mir Zeigefinger und Daumen an den Nasenflügel setze und mich an die Wand lege.

"Langsam, Prinzessin. Was ist eigentlich los?"
Ich atme tief ein und erkläre ihm das Nötigste, um nicht zu viel Zeit zu verschwenden.

"Den Rest kann ich dir genauer erklären, wenn du hier bist. Wann war geplant, dass du zurückkommst?", frage ich ihn und sehe an die Wand, welche mir gegenüber liegt.

"In zwei Tagen. Ich buche gerade einen Last-minute-Flug. Schick mir eine Adresse und ich komme zu euch", sagt er ziemlich besorgt, ehe er den Anruf einfach abbricht.

Da er das sonst nie tut, ist mir sofort klar, wie wichtig auch ihm diese Situation ist.

Passionate VengeanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt