Kapitel 1

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Inola starrte nach draußen. Die großen Fenster, die eine gesamte Seite des Wohnzimmers einnahmen, erlaubten ihr sehnsüchtige Blicke auf den Dschungel, der sich in einiger Entfernung gen Himmel reckte. Riesige Bäume, deren Stämme man nicht einmal zu zweit umarmen konnte – sie hatte es zusammen mit ihrem Bruder Shiye oftmals versucht – Farne und Schlingpflanzen, sie alle schienen ihr gerade verlockender als der bevorstehende Unterricht mit Oo-Wa-Tie. Der sanftmütige und weise Thorianer, der ein guter Freund ihrer Eltern war und schon ihre Mutter unterrichtet hatte, nachdem ihr Vater sie auf seinen Heimatplaneten verschleppt hatte. Die junge Basterianerin seufzte. Selbst ihre Mama, die ursprünglich von der Erde, einem mittelklassigen Planeten mit einer selbstverliebten und unfähigen Bevölkerung stammte, hatte schon mehr von der Galaxie gesehen als sie selbst. Dabei war sie als Alphaweibchen die designierte Nachfolgerin ihres Vaters und würde eines Tages diplomatische Gespräche mit anderen Nationen führen müssen.

„Wo bist du nur wieder mit deinen Gedanken, Inola?" Die große Gestalt, die ihr gegenüber saß, schüttelte missbilligend die silbergraue, wilde Mähne. Der Thorianer folgte ihrem Blick über die bunte Blumenwiese zum Waldrand, zum Anfang des Dschungels. „Natürlich, das hätte ich mir denken können." Er seufzte tief. „Wenn du ordentlich mitarbeitest, können wir den Unterricht eher beenden. Deine Eltern sind in Keetoowah beschäftigt und dürften daher nichts mitbekommen. Vorausgesetzt, du riechst nach deinem Ausflug nicht wieder wie der halbe Dschungel."

Inola wandte sich ihm zu und zog eine Grimasse. „Warum können wir es heute dann nicht gleich sein lassen? Ohne Shiye macht es mir eh keinen Spaß."

„Dein Bruder soll sich mehr mit den Tätigkeiten bei der Garde auseinandersetzen. Dein Onkel würde ihn gern als Adjutanten in den folgenden Wochen oder Monaten mitnehmen und ihn zu deinem persönlichen Beschützer ausbilden."

„Shiye als mein Beschützer?" Inola schüttelte lachend den Kopf. Ihr Brüderchen war der sanftmütigste Basterianer, den sie kannte. Auch derjenige, mit der hellsten Fellfarbe. Nicht einmal Weibchen hatten ein so hellgraues Fell. Abgesehen von ihrer Mutter, die als Luna mit ihrem schneeweißen Haarkleid überall auffiel und von allen als Retterin ihres Volkes verehrt wurde.

„Was spricht dagegen? Traust du es ihm nicht zu, dass er alles in seiner Macht stehende unternehmen würde, um dich zu beschützen?" Der Thorianer lehnte sich vor. Inola überlegte, ob sie anfangen sollte, die Falten in seinem Gesicht zu zählen. Tiefe Furchen, von denen jede für sich eine Geschichte aus seinem langen Leben zu erzählen schien. Daneben dünnere Linien, die mit den Jahren dazugekommen waren. In letzter Zeit litt ihr Lehrer ein wenig unter Haarausfall. Einst sollte ein Großteil seiner Stirn und der Wangen mit den silbernen Haaren bedeckt gewesen sein, die noch immer eine imposante Mähne auf seinem Kopf bildeten. Ein weiteres Zeichen, dass er nicht mehr der Jüngste war. Ob er eines Tages noch ihre Kinder unterrichten würde? Nicht in den nächsten Jahren, das hatte eindeutig noch Zeit. Aber irgendwann?

„Inola, hörst du mir überhaupt zu?" Der Pavian seufzte. „Was soll ich nur mit dir machen, Kind? Deine Aufmerksamkeit ist flatterhafter als die eines Schmetterlings. Als zukünftige Anführerin deines Volkes benötigst du Konzentration und Ruhe."

Kam er damit wieder an. Sie unterdrückte ein Knurren. „Meine Mutter hat gesagt, dass mein Vater mir genügend Zeit lassen wird, bis ich die Regierungsgeschäfte von ihm übernehmen muss. Schon allein, weil unser Volk so in meine Mutter vernarrt ist." Die Luna wurde von allen gern gesehen. Sie war aber auch etwas Besonderes. Ein Mensch, der in eine Basterianerin verwandelt wurde. Sie schmunzelte. Was das betraf, war ein Großteil ihrer Familie ungewöhnlich. Ihr Onkel Niyol, als Baby von der Erde entführt und erst zum Chonsaner mutiert, lief als Panther mit den drei Kämmen der Echsen auf dem Kopf herum. Seine Frau Galilahi, in ihrer Kindheit wegen ihrer Dreifarbigkeit verspottet, galt mittlerweile als eine der hübschesten Basterianerinnen auf Gangalon. Dabei half, dass ihr Mann die Garde der Luna anführte. Dessen Ziehvater wiederum einer der Chonsaner war. Inola mochte Bidziil, die alte Echse, die ebenso wie ihr basterianischer Großvater, der ehemalige Alpha, mit im Haus wohnte. Genauso liebte sie die verrückte Truppe, deren bedachter und gerissener Anführer ihr Onkel war.

Der KenmererWo Geschichten leben. Entdecke jetzt