Kapitel XXXI

1.7K 111 13
                                    

Anastasia

Mit langsamen Schritten machte ich mich auf den Weg zur Garage.
Mein Körper folgte meinen Befehlen rein automatisch, denn mein Verstand war vollkommen leer.
Ich spürte nichts, keine Trauer, keinen Schmerz, nicht einmal Wut.
Alles was ich fühlte war Leere.
Ein enormes Vakuum, welches sich im inneren meines Körpers ausbreitete und wie ein schwarzes Loch alles in sich hineinzog, bis nicht einmal meine Seele übrig blieb.

In der Gestalt eines Roboters trat ich die Stufen herunter und mit jedem Schritt zog sich mein Hals mehr und mehr zusammen. Meine Kraftreserven waren bereits auf ihr Kleinste aufgebraucht und die erdrückende Last auf meiner Brust machte das Gehen nur noch schwerer.
Ich bemerkte Dantes Präsenz hinter mir, doch ich drehte mich nicht um. Es war, als würde ich durch einen Tunnel sehen und nur das andere Ende war wichtig. Alles andere trat in den Hintergrund. Die Wände des Flurs, durch welchen ich nun schritt, verwirklichten meine Vorstellung eines Tunnels und machten meine Gefühle um so realer.
Vor der Eingangstür blieb ich stehen. Es fehlte nur noch ein Meter, dann würde ich einen Blick ins Innere erhalten, doch meine Beine trugen mich nicht weiter.
Die Luft um mich herum wurde dünner und ich stütze mich an der Wand rechts von mir ab.
Ehe meine Handinnenfläche die Tapete berühren konnte, tauchte eine Hand um meine Taille auf und zog mich wieder aufrecht.
Dantes Parfum drang mir in die Nase und breitete sich auf meine Sinne aus. Für einen Augenblick schloss ich die Augen und verlor mich in seinen Armen, tat so als wäre ich wo anders, auf Capri. Ich stand umgeben von Zitronenbäumen, ihr herber Duft umspielte meine Geruchsnerven und die warme Sonne umschmeichelte meine Schultern.
Dantes Griff hielt mich beschützend an sich, während wir die Landschaft genossen. Das blaue Meer traf am Horizont auf den klaren Himmel und ließ die verschiedenen Töne der blauen Farbpalette mit einander verschmelzen.
In der Ferne zwitscherten fröhlich einige Vögel und unterstrichen die sommerliche Atmosphäre mit ihrer Anwesenheit.
Das Gefühl von weichem Sand unter meinen Füßen, der Geruch von Sonnencreme in der Nase, sowie der Geschmack von Himbeeren und Holunderblüte auf meinen Lippen erinnerten an unsere Flitterwochen.
An eine Zeit, an der ich zum letzten Mal ohne Angst einatmeten konnte.
Plötzlich nahm meine Erinnerung eine Wende.
Es war nur für einen kurzen Moment, doch es war viel zu real, als dass ich es ignorieren könnte.
Wie ein Donnerschlag hallte Ivans Lachen durch meinen Verstand und warf mich zu unserem Abendessen auf der Terrasse auf Capri.
Sein Klang war so rein und klar, dass ich meine Augen aufschlug.
Eine erschütternde Einsicht erhellte meine Neuronen und ließ eine Gänse über meine Rücken laufen.
Nicht einmal in meinen Gedanken konnte ich vor seiner Gestalt und den Erinnerungen fliehen.

Ich befreite mich auf Dantes Griff und rückte etwas von ihm weg. Ich brauchte Abstand, um den nächsten Abschnitt zu bewältigen. Mit dem Blick zum Türrahmen gerichtet, näherte ich mich meiner größten Angst.
Eine erbarmungslose Kälte traf mich wie ein Schlag als ich den Raum betrat und ich spannte unbewusst die Schultern an.
Der Raum wurde nur durch kleinen Fester beleuchtet, welche im oberen Teil der Wand angebracht waren. Die Sonne wurde heute von den dichten Wolken verdeckt und dennoch traf ein Strahl des Tageslichts ins Innere. Er leuchtete direkt auf die zwei Stahlkasten, welche die Mitte ausfüllten.
Der Anblick ließ mein Herz still stehen.
Ein großer, quadratischer Kasten, zwei Meter lang und achtzig Zentimeter breit, hergestellt aus kaltem Metall soll das Bett für meinen Bruder sein. Es war, als würde mein Verstand erst jetzt begreifen, dass er wirklich tot war.
"Das ist viel zu eng."
Mit langsamen Schritt trat ich an den rechten Kiste heran. Auf seiner Oberfläche lag eine Kette aus Silber, die ich sofort wieder erkannte, sie gehörte Vlad. Ivan hatte sie ihm geschenkt, nachdem er in die Reihen unseres Vaters aufgenommen wurde. Das war beginn ihrer Freundschaft und so würde sie auch enden. Mit einem Stück Silber, genauso kalt wie das Material, welches Ivan jetzt umhüllte.
"Dieser Kasten ist viel zu eng, Ivan hat ein breites Kreuz! Wir müssen das beim Sarg bedenken, wenn wir ihn kaufen." Dante antwortete nicht, aber ich wusste, dass er mich gehört hatte.
Meine Finger streiften die Kette leicht, als ich sie über den vorübergehenden Sarg meines Bruder gleiten ließ.

Ich wusste nicht, ob es ein Selbstschutz Mechanismus war, oder ob ich einfach keine Gefühle mehr in mir hatte, aber ich war vollkommen rational. In meinem Kopf ging ich bereits alle Punkte durch, die für die Beerdigung zu erledigen waren. Ich müsste Onkel Boris hinzuziehen, er war die einzige Familie die wir noch hatten. Auch brauchte ich seine Hilfe bei der Organisation einer orthodoxen Beerdigung, da ich von diesem Teil unserer Tradition nicht viel wusste. Darum kümmerten sich immer andere, doch die waren alle gegangen. Sie alle ließen mich alleine.
Und jetzt auch Ivan.

Ich nahm meine Hand vom Metall und wandte mich ab. Nun sah ich meinen Mann direkt an, ehe ich wieder anfing zu sprechen.
"Wir werden die Beerdigung hier abhalten, aber nach russischer Tradition. Isabella gehört als seine Frau zu Ivans Familie und bekommt damit auch eine russische Bestattung. Wenn er schon nicht in seiner heimischen Erde begraben werden kann, dann wenigstens seiner Kultur entsprechend, neben seiner Frau."
Ich wartete nicht auf seine Antwort, sondern verließ den Raum und ließ ihn alleine zurück.

Meine Beine trugen mich die Gänge entlang und ich folgte nur den Gedanken in meinem Kopf. Wie in einer Laufschleife spielten sich die Fragen wieder und wieder in meinem Verstand ab. Es war immer die selbe Frage, nur konnte ich einfach keine Antwort finden.
Wieso?
Wieso tat er das?
Wieso ließ er mich alleine?
Wieso brach er sein Versprechen, immer an meiner Seite zu sein?
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch irgendwann blieb ich stehen.
Ob nun unbewusst oder aufgrund eines unterdrückten Wunsches war egal,  ich fand mich erneut vor Ivans und Isabellas Zimmertür wieder.
Die Erinnerung von gestern Abend trat wieder in den Vordergrund, sodass ich sie kraftvoll zurück drängte.

Schwer atmete ich die Luft ein und versuchte mit Hilfe des Sauerstoffes eine Entscheidung zu treffen.
So sehr ich mich auch davor fürchtete dieses Zimmer wieder zu betreten, so sehr wollte ich es auch. Diese gemischten Gefühle machten es mir fast unmöglich die Türklinke zu berühren, doch im letzten Moment konnte ich noch meine Angst überwinden und sie herunter drücken.

Vorsichtig, fast so als würde ich erwarten jemanden zu stören, ging ich ins Innere. Wie gestern war das Zimmer leer, auch wenn ich mit dem letzten Funken Hoffnung, das sich in meinem Herz versteckt hatte, betete ich sie anzutreffen. Nur für einen kurzen Moment glaubte ich, dass ich es diesmal schaffen würde, ihn hier vorzufinden.

Wie ein Geist streifte ich durch den Raum.
Die Erinnerungen um mich herum waren real, sie waren echt.
Doch ich, ich war eine Illusion.

Gerade, als mich die schmerzhaften Andenken an meinen Bruder dazu zwangen das Zimmer wieder zu verlassen, ließ mich mein Name anhalten.
Ich erblickte ihn beim vorbeigehen, aus reinem Zufall.
Schwarz auf weiß wurde er sorgfältig in der Handschrift meines Bruders auf einem unbekanntem Umschlag niedergeschrieben.
Der Briefumschlag lag rein säuberlich in der Mitte seines Schreibtisches, fast so, als wollte er gefunden werden.

Neugierig wandte ich mich dem Schreibtisch zu.
Wieso hatte Ivan mir einen Brief geschrieben?
Wann hatte er das überhaupt getan?
Und wieso hatte er ihn mir nicht gegeben?

Diese Fragen lösten die in meinem Kopf ab und füllten nun meinen Verstand aus, doch ich verschwendete keine weitere Zeit für die Antwort suche, sondern öffnete den Umschlag.

Mit zitternden Händen hielt ich den Brief in meinen Händen, während meine Augen über die Zeilen flogen.
Ich wusste nicht genau nach welchen Antworten ich suchte, doch was auch immer ich finden würde, es war an der Zeit dem entgegen zu stehen.

3. Verhandeln

Ace of Hearts IIIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt