Kapitel XXXIV

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Die Tränen auf meinem Gesicht waren für den Moment versiegt, was mir die Sicht klärte und mich alles noch intensiver wahrnehmen ließ.

Direkt vor mir stand der Sarg.
Es trennten uns nur wenige Zentimeter und doch fühlte es sich wie Welten an.
Die Menschen um mich herum verabschiedeten sich von Ivan, ehe wir die letzten Meter bis hin zum Grab beschreiten würden. Sie kamen entgegen dem Uhrzeigersinn auf den Sarg zu, so wie es die russische Tradition verlangte. Jeder einzelne von ihnen sah es als ihre Pflicht an, anschließend an mich heran zu treten und mir ihr Mitleid auszusprechen.
Gegenüber von uns lief das selbe Schauspiel ab, nur mit den Angehörigen der Martinellis.

Ich schwieg und ließ Onkel Boris für mich antworten. Er stand während der gesamten Zeit neben mir und nahm die Bekundungen entgegen.
Als Familie, war es unsere Pflicht die Menschen zu empfangen, doch ihre Worte prallten einfach an mir ab. Nichts was sie sagten, berührte mich oder half mir bei meinem Schmerz.
Es schien viel mehr so, als tat sie es für sich, als würden sie sich dadurch besser fühlen.
Aus einem Akt der Selbstbefreiung wurde eine Tradition, die keiner brauchte, nach der kein Trauender gefragt hatte.
Am liebsten hätte ich ihnen auf jedes Es tut mir leid eine ironische Antwort gegeben. Wieso entschuldigte man sich, wenn man nichts getan hatte?!
Wie unnötig und aufgesetzt...

Ich hörte ihnen die meiste Zeit nicht zu, sondern ging in meinem Kopf immer wieder meine Liste durch.
Ich schwor mir, dass ich alles nach den Regeln unserer Kultur und Religion abhalten würde, doch die Wahrheit war, dass ich selbst nicht alle Einzelheiten kannte. Die Beerdigung meiner Mutter lief ohne mich ab, da ich zu dem Zeitpunkt immer noch im Krankenhaus war. Und bei denen meiner Großeltern war ich noch zu klein, sodass man mich nicht in die Organisation einbezog. Somit war dies mein erstes Mal.
Auch Onkel Boris war mir keine wirkliche Hilfe, denn er kam erst am Tag der Panikhida an. Zu dem Zeitpunkt hatte ich das Band mit den Gebeten bereits auf Ivans Stirn angebracht. Diese Tradition kannte ich noch von der Beerdigung meines Großvaters. Damals legte meine Mutter ihm das Papierband mit den Worten des Trisagions auf seine Stirn. Dieses Bild hatte sich so sehr in meine Erinnerung gebrannt, dass ich die Worte rein aus dem Gedächtnis her aufschreiben konnte.

Heiliger Gott- Heiliger Starker- Heiliger Unsterblicher, erbarme Dich!

Und trotzdem überprüfte ich jeden Buchstaben zwei Mal. Selbst während des Gottesdienstes zählte ich die Gebete, um sicher zu gehen, dass der Priester keinen vergaß.
Die Angst, ich könnte etwas auslassen und damit einen Fehler beim Abschied meines Bruders machen, war groß.
Es war, als würde mich diese Sorge daran hindern, verrückt zu werden. Wenn ich meine Gedanken mit den organisatorischen Fragen überschüttete, dann blieb kein Platz für meine Trauer.
Auf diese Weise konnte ich heute morgen überhaupt das Bett verlassen.

Als die letzte Person endlich an mir vorbei ging, konnte ich wieder aufatmen. Die kühle Luft flutete meine Lungen und reichte mein Blut mit Sauerstoff an.

Schweigend trat Vlad an die eine Seite des Sargs, während Onkel Boris sich an die andere stellte.
Gemeinsam mit vier weiteren Männern der russischen Mafia hoben sie den Sarg mit ihren, in weißen Handschuhen gecoverten, Händen an und machten die ersten Bewegungen in Richtung des Grabes.
Hinter dem Sarg ging der Priester und sprach die letzten Gebete.
Parallel traten die Martinelli Bruder an Isabellas Sarg und bewegten sich zeitlich mit Vlad und Onkel Boris nach vorne.

Schritt für Schritt trugen mich meine Beine voran, in der Hand zwei rote Nelken, die ich fest umklammerte.
Ich war alleine.
In diesem Moment gab es keinen, der neben mir ging.
Und ich konnte niemanden einen Vorwurf machen.
Die Position hinter dem Priester, am Anfang des Marsches der Trauergäste, war für die Familie vorgesehen.
Und ich war seine Familie.
Ich war die einzige Familie, die Ivan noch geblieben war.
Und er meine...
Doch nun war auch er nicht mehr da...
Unser einziger Familienangehöriger, der sich noch für uns interessierte trug den Sarg...
Und auch meine neue Familie konnte mir keinen Beistand bieten, denn sie hatten mit ihrer eigenen Trauer zu kämpfen.

Ich legte meine freie Hand auf meinen gewölbten Babybauch und tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich nicht ganz alleine war.
Und so unscheinbar es auch war, doch der Gedanke, dass mein Sohn seinen Onkel wenigstens aus diese Weise mit begleitete, ließ mich nicht so einsam fühlen.

Wir erreichten die ausgehobenen Gräber.
Alle blieben stehen und formten einen Halbkreis um die Löcher. Ich stellte mich genau vor Ivans Stelle.
Die Gäste mischten sich zu einer Einheit und ich spürte Dantes Präsenz neben mir. Er hatte seinen Platz mit einem seiner Männer getauscht und sich zu mir gesellt, doch ich hielt den Blick nach vorne gerichtet.
Das Erdloch war so tief und dunkel.
Sofort traten mir wieder Tränen in die Augen.
Der Anblick vor mir drängte meine rationalen Gedanken, an welche ich mich so lange gehalten hatte, beiseite und ließ meine Emotionen die Oberhand gewinnen.

Augenblicklich fand Dantes Hand meinen Rücken und er fuhr mit der Innenfläche auf und ab.
Ich schätzte seinen Beistand, besonders da ich mich vor einigen Minuten noch so alleine gefühlt hatte. Für den Moment schob ich unsere Distanz beiseite und ließ die Nähe zwischen uns zu. Genauso wie zu Beginn der Beerdigung, als er mich in seine Arme zog und mich still hatte weinen lassen, ging es mir allein durch seine Anwesenheit besser.

Das Gefühlschaos in meinem Inneren unterdrückte ich und ließ alle widersprüchlichen Emotionen verstummen.
Mein Blick haftete immer noch auf der Erde und ich wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln.

Der Priester beendete sein letztes Gebet und gab den Sargträgern ein Zeichen die Särge in Position zu bringen.
Langsam und gleichzeitig wurden beide hinunter gelassen.
Zentimeter für Zentimeter tauchten sie unter die Erde, bis sie komplett verschwanden.

Als ich das Geräusch des leichten Aufpralls hörte, wusste ich, dass es vorbei war.
Das war das Ende.
Er war an seinem neuen Platz angekommen.

Wieder brach ich in Tränen aus. Es waren stille Tränen, die mein Gesicht tränken.

Ich machte einige Schritte nach vorne und hielt an dem Rand des Grabes an. Meine Augen sahen in die Tiefe und ich wusste schon jetzt, dass mich dieser Anblick lange verfolgen wird.
Ich beugte mich hinunter und griff nach einer handvoll Erde, die ich auf die Oberfläche des Sargs warf.
Das wiederholte ich noch zwei Mal und richtete mich anschließend wieder auf.

Ich drückte die Nelken in einer Hand einmal kurz zu, ehe ich auch sie hinein warf.

Nun fällt nur noch der Abschied.
Doch wie genau sollte ich das tun?
Wie sage ich Aufwiedersehen, wenn ich nicht weiß, dass es eins geben wird!
Wie sage ich Aufwiedersehen und lassen ihn hier liegen, wenn er mich nie alleine gelassen hatte!
Wie verdammt nochmal schaffe ich es ein Wort über die Lippen zu bringen, wenn mein ganzer Körper zitterte und ich kaum Luft bekam.

Immer noch starrte ich auf den Sarg.

Meine Gedanken kreisten, doch ich fand einfach nicht die richtigen Worte.
Weder konnte ich einen Abschied über Lippen bringen, noch einen geeigneten in meinem Kopf formulieren.

Ich griff in die Tasche meiner Jacke und holte einen Umschlag heraus.
Kurz sah ich die weiße Farbe an, auf welcher ich mit schwarzer Tinte seinen Namen geschrieben hatte.

Ivan

Zusammen mit einigen Tränen, die von dem Papier aufgezogen wurden, warf ich den Brief zu den Blumen auf die Sargoberfläche.

Es waren keine weiteren Worte notwendig.

Kein Abschied mehr gefordert, nur eine Antwort auf seinen Brief.

Der erste Spaten stich in die Erde und warf die erste Schicht ins Innere des Grabs.

Aufwiedersehen großer Bruder...

...царства тебе небесное

Ace of Hearts IIIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt