Kapitel XXXVI

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Anastasia

Die Minuten wurden zu Stunden und die Stunden zu Tagen.
Alles flog an mir vorbei, als wäre ich nicht anwesend, als würde das alles nicht mit mir passieren. Die Taubheit in meinem Inneren verdrängte mich auf die Position des Zuschauers und ich ließ es zu.

Meine Hand wanderte über Ivans Fell, welcher schlafend auf meinem Schoß lag. Seine Schnauze hatte er auf meinem Bauch abgelegt.
Ich hörte das Klopfen und die Rufe, doch mein Körper wollte sich nicht bewegen.
Es war, als hätte ich keinen Funken Kraft mehr in mir.
Mein Blick war ziellos in die Ferne gerichtet und ich verfolgte die kreisenden Vögel im Himmel. Der Herbst neigte sich dem Ende zu und die Temperaturen fielen mit jedem Tag und der Winter stand bereits vor der Tür. Ich hatte mir eine Decke um die Schultern geworfen, da eine lange Hose und ein Pullover nicht ausreichten, um auf dem Balkon nicht zu frieren.
Die Stimme meines Mannes wurde lauter, doch wie bereits zu Beginn, ignorierte ich ihn.
Ich hatte Caroline eine Nachricht geschickt, dass ich nicht frühstücken werde und auch Chiara hatte ich heute Morgen weggeschickt. Sie sollten also wissen, dass ich niemanden sehen wollte.

Es vergingen einige Minuten, ehe ich hören konnte, wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde und die Tür mit Kraft aufging. Sie wurde so stark aufgestoßen, dass sie gegen die Wand flog, was einen lauten Knall verursachte.
"Anastasia?!" Dante lief im Zimmer herum und suchte nach mir, doch dort war ich nicht. Es dauerte etwas, bis er die offene Balkontür bemerkte.
"Verdammt, Amore! Was machst du hier?"
Ich sah ihn nicht an, doch konnte ich seine prägnante Präsenz spüren. Ich wusste, dass er sich stark zusammen riss, um mich nicht anzuschreien.
"Ich brauchte frische Luft." Meine Hand wanderte wieder über Ivans Fell und der kleine Welpe kuschelte sich näher an mich.
"Warum hast du die Tür nicht aufgemacht? Hast du das Klopfen nicht gehört?" Das war eine rhetorische Frage, denn wir beide wussten, dass ich es gehört hatte.
"Wäre ich aufgestanden, dann wäre Ivan aufgewacht."
Das war nur ein Grund für mein Handeln und dazu auch noch der schwächere. Doch wollte ich ihm keine lange Erklärung geben, er konnte sowieso nichts an meinen Gefühlen ändern, warum sie also breitlang diskutieren?
"Von deiner Stimme wäre er aber nicht aufgewacht. Du hättest was sagen können! Ich dachte dir wäre was passiert!" Seine Geduld verstrich mit jedem Buchstaben, der über seine Lippen wanderte und ich wusste, dass ich ihm eine befriedigende Antworten geben musste, wenn ich keinen Wutanfall erleben wollte.
Das Problem war nur, dass ich keine hatte.
"Ich wollte es nicht riskieren, er ist gerade erst eingeschlafen." Dantes Gesichtsausdruck nach, glaubte er mir kein Wort, doch er ließ meine Antwort gelten. Ich schätze mal, er wollte die Grenze zum Streit nicht übertreten.

Wir hatten uns in der letzten Woche nur ein paar Mal gesehen und die meiste Zeit sprachen wir kaum. Er schlief seit ein paar Tagen auch nicht mehr in unserem Zimmer, sodass die Spannung zwischen uns einem Dynamitfass ähnelte.
Ich spürte seine Augen auf mir, doch ich reagierte nicht auf seinen eindringlichen Blick. Ich blieb standhaft.

"Hast du gegessen?" Unerwartet durchbrach er die Stille und zog damit meine Aufmerksamkeit auf sich.
Mein Blick kreuzte seinen und ich schüttelte den Kopf.
"Ich hab noch keinen Appetit."
Ohne noch etwas zu sagen, drehte er sich von mir ab und ging zurück ins Zimmer.
"Chiara, sag Caroline, dass sie ihr eine Auswahl an Lunch hochbringen soll." Danach hörte ich, wie sich seine Schritte noch weiter entfernten und kurz danach die Tür geschlossen wurde.
Ich war wieder alleine.

Wie von Dante befohlen kam Caroline ein paar Minuten später mit einem vollgefüllten Tablett ins Zimmer. Still stellte sie alles auf dem Tisch ab und verließ dann den Raum wieder.
Mittlerweile war Ivan aufgewacht, sodass ich aufstehen und mir den Obstteller nehmen konnte. Ich aß ein paar Weintraumen und zwang eine halbe Banane hinunter, ehe ich mich wieder dem Hund widmete.

Die Uhrzeiger bewegten sich mal schnell und mal wie in Zeitlupe, doch als sie auf die Zehn sprangen, stand ich von der Couch auf, auf der ich es mir die letzten Stunden gemütlich gemacht hatte und ging zum Kleiderschrank herüber.
Ich zog die lockere Hose aus und tauschte den weißen Pullover gegen einen schwarzen Rollkragen Pullover. Ich kombinierte ihn mit einer schwarzen Jeans und ein Paar Boots der selben Farbe.
Anschließend nahm ich meinen Ledermantel vom Haken und griff nach einer Handtasche.

Nachdem ich alles angezogen hatte, machte ich mich auf den Weg zur Garage. Wie jeden Tag war das Haus und diese Uhrzeit vollkommen leer. Dante befand sich in seinem Büro, während die anderen sich schon auf ihren Zimmern befanden.
Ich atmete einmal tief durch, ehe ich mir einen Autoschlüssel aussuchte. Mein Verstand war fokussiert und von der Schlappheit und Müdigkeit war nichts mehr zu sehen. Nur zu dieser Zeit am Tag konnte ich genug Kraft aufbringen, um ich selbst zu sein.

Ich öffnete die Tür des schwarzen Mercedes und setzte mich hinter das Steuer.
Meine Schwangerschaft näherte sich dem siebten Monat, sodass sich der Bauch beim Fahren bereits bemerkbar machte. Ich ließ den Fahrersitz ein paar Zentimeter weiter nach hinten als sonst und startete den Motor.
Mit gleitetender Geschwindigkeit fuhr ich vom Gelände, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.
Als ich die Hauptstraße erreicht hatte, trat ich das Gaspedal durch und machte mich auf den Weg zum südlichen Teil der Stadt.

Wie jeden Abend schaffte ich es innerhalb von einer halben Stunde zum Lagerhaus, vor dessen Tor bereits zwei Autos geparkt waren.
Ich trat aus dem Auto, drückte den Knopf auf dem Schüssel, um es abzuschließen und ging zum Tor.
Die Lichter draußen waren bereits an, was es mir erleichterte den Weg zu finden.

Meine Schritten hallten im ganzen Gebäude wieder, was es unmöglich machte sich anzuschleichen.
Die Betonwände und die mangelnde Beleuchtung im Inneren verlor dem Lagerhaus eine düstere Atmosphäre und so sehr ich mich auch dagegen streubte, es erinnerte mich an den Ort an dem ich den Yakuza Boss erschoss.
Es war schwer vorstellbar, dass nicht einmal ein Jahr seither vergangen war, dabei kam es mir jetzt schon wie ein anderes Leben vor.

Meine Beine trugen mich weiter den Flur entlang und ich konnte schon ihre Stimmen hören.

"Timur hast du das Programm überholt? Ich glaube der Computer braucht ein update!"

"Ja, aber er ist immer noch ziemlich langsam. Wir sollten einen neuen herbringen."

"Den schleppt ihr aber selber. Ich bin es leid euren ganzen Kramm hier her zu tragen."

Ich öffnete die Tür und nun konnte ich die Stimmen auch den Gesichtern zuordnen.
Riccardo, Timur und Marco standen in der Mitte eines großen Raums. Neben ihnen stand ein großer Tisch, ein paar Sessel und Stühle, sowie zwei Computer.
Die große Wand hinter ihnen diente als Leinwand, an welcher bereits einige Fotos und Informationen hingen.
Sie wurden untereinander mit Fäden verbunden, sodass man ihre Bedeutung besser verstand. Die einzelnen Puzzle setzten sich langsam zu einem Bild zusammen.

"Da bist du ja, ich hab doch gesagt, dass ich dich heute mitnehmen kann." Mein Schwager kam auf mich zu gelaufen und nahm mir die Sporttasche aus der Hand.
"Im hinteren Fach sind weitere Informationen für die Wand."
Marco griff in die Tasche und reichte Timur die Zettel, welcher sich so gleich daran machte diese ordnungsgemäß anzukleben.

"Ich hab uns Kaffee besorgt." Wir drehten uns alle zu der Stimme, welche aus dem Flur ertönte. Die Person betrat den Raum und sein Anblick zauberte mir ein leichtes Lächeln auf die Lippen.
"Und für dich natürlich einen Tee." Onkel Boris lächelte mich herzlich an, ehe er die Becher verteilte.

Da waren wir wieder.
Eine weitere Nacht, in der wir zu fünft alles daran setzten, die Spur meines Vaters zu finden.
Eine weitere Nacht, in der Ivans und Isabellas Tod ungesünd blieb.

Doch bald hätte das ein Ende.

Sieh dich vor Vater...

Ich werde kommen und ich werde dein Ende sein!

6. Rache

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