Kapitel XXXV

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Dante

Ich zog die Tagesdecke von meinen Schultern und legte sie über die Stuhllehne hinter mir.
Ich musste in meinem Büro eingeschlafen sein, als ich gestern Abend an den Geschäftsbüchern arbeitete.
Mit Sicherheit hatte Chiara, als sie nach mir sah, die Decke über mich gelegt, das tat sie nicht zum ersten Mal. Die Beerdigung war jetzt eine Woche her und ich stütze mich seither unentwegt in die Arbeit.

Einerseits, weil sich eine unüberschaubare Menge an Dokumenten auf meinem Schreibtisch angesammelt hatte, anderseits konnte ich auf diese Weise meine Gedanken betäuben.
Ich stand von meinem Stuhl auf und machte mich auf den Weg in die Küche, um mir einen heißen Kaffee zu machen. Die Zeiger der Uhr standen auf halb zehn, was mich für eine Sekunde innehalten ließ. So spät stand ich für gewöhnlich nicht auf, besonders nicht in der letzten Zeit. Im Flur kam mir mein Vater entgegen, welcher seinen Kopf gesenkt hielt.
Sein Anblick war ein Schock für mich. Der Mann, den ich mein Leben lang kannte war kaum wieder zuerkennen.

Der sonst breitgebaute, stolze italienische Mafiosi hatte vollkommen die Spannung in seinem Kreuz verloren, was dazu geführt hatte, dass seine Schultern schlaf herunter hingen und ihm eine gebeugte Haltung bescherte.
Auch an seiner Kleidung konnte man deutlich die Trauer erkennen, denn die einst maßgeschneiderten Klamotten wurden nun kaum noch von seinem Körper ausgefüllt. Tiefe Augenringe zierten sein Gesicht und ließen ihn noch älter aussehen.
"Guten Morgen, Sohn." Mein Vater blieb stehen und unserer Blicke trafen sich.
"Guten Morgen." Mein Blick wanderte immer noch über seine Geistlose Gestalt.

"Nachdem du gefrühstückt hast, würde ich gerne mit dir sprechen. Ich plane deine Mutter und Oma für eine gewisse Zeit von ihr weg zu bringen. Sie haben einen Ortwechsel nötig und auch ich sehne mich nach einer Auszeit." Es klang förmlich so, als würde er mich um Erlaubnis bitten.
Isabellas Tod hatte uns nicht nur einen unheilbaren Schmerz gebracht, sondern auch jeden einzelnen von uns verändert. Meine Eltern waren nur noch ein Schatten ihrer Selbst. Sie lebten nicht mehr, es war mehr ein Existieren.
Lorenzo hatte einen ähnlichen Ausweg gefunden, wie ich. Er häufte sie Unmengen an Arbeit auf, gerade so viel, dass er unter der Last begraben wurde und keine Zeit hatte, an etwas anderes als Tabellen und Lieferscheine zu denken.
Luca verfiel wieder in alte Muster. Wie schon bei Noras Tod zog er sich komplett in sich zurück und sprach kaum noch ein Wort. Man könnte meinen, dass er nachdenklich wirkte, doch in Wahrheit verschloss er sich und machte seinen Schmerz mit sich selbst aus.
"Wo ist Mama?"
Ich sah mich um, doch konnte sie nicht an ihren üblichen Plätzen ausmachen. Als ich in die Küche sah, tauchte eine kurze Erinnerung vor meinen Augen auf. Dabei stand Mama hinter der Kücheninsel und knetete den Teig für die selbstgemachte Pasta, welche sie uns zum Mittag servieren würde. Ein breites Lächeln malten ihre roten Lippen und es spiegelte sich in ihren Augen wieder.
"Sie ist mit Leonardo zum Friedhof gegangen."

Ich nickte meinem Vater knapp zu und die Erinnerung löste sich in Luft aus.
Ich ging zur Kaffeemaschine herüber.
Mein Verstand sehnte sich nach Koffein, weshalb ich einen Espresso wählte und mich mit der Tasse zusammen auf den Weg zu meinem Zimmer machte.
Meine Gedanken führten mich zu meinen anderen Brüdern. Marco verschwand für mehrere Tage und keiner wusste genau, wo er sich aufhielt. An seiner offenen Zimmertür erkannte ich, dass heute wieder ein solcher Tag war.
Kopfschüttelnd ging ich weiter und kam nach einigen Metern zur nächsten Zimmertür. Diese war im Gegenzug zu Marcos verschlossen.
Es war mein Schlafzimmer.
Wie bereits die Gewohnheit es von mir verlangte, klopfte ich gegen das Holz, um eine Reaktion von der anderen Seite zu erhalten, doch es blieb still.

Anastasia hatte seit Tagen das Zimmer nicht mehr verlassen und jeder meiner Versuche mit ihr zu interagieren, verlief ins Leere. Die meiste Zeit schwieg sie und starrte ins Leere, dabei ignorierte sie nicht nur mich, auch Vlad und Laura hatten bei ihr keinen Erfolg. Sie hatte sich einfach abgekapselt und im Bett verkrochen. Zuerst hatte ich vor, ihr genügend Zeit zu geben und nicht unnötig Druck auf sie auszuüben, doch langsam wandelte sich meine Fürsorge in echte Sorge um. Wenn es so weiter ging, dann würde ihre Trauer in eine ernst zunehmende Depression umspringen.
Ich klopfte ein weiteres Mal, doch auch diese Anfrage blieb unbeantwortet.
Gerade, als ich die Türklinke heruntergedrückt hatte, kam Chiara auf mich zu.

"Sie kam heute noch nicht raus." Mit fester Stimme teilte sie mir die Information mit. Chiara hatte sich enorm verändert. Es war,, als wäre für sie nicht eine Woche, sondern Jahre vergangen. Sie über Nacht reifer und seriöser geworden. Das junge und dickköpfige Mädchen verschwand und an ihre Stelle trat eine verantwortungsbewusste und fokussierte junge Frau. Während die Familie Stück für Stück auseinander brach und sich zu einzelnen Individuen formte, welche sich nur ein Haus teilten, tat sie alles, was in ihrer Macht stand, um uns zusammen zu halten. Sie verbrachte einen teil ihrer Zeit mit Riccardo, welcher Nachts nicht schlafen konnte, sodass sein Rhythmus komplett aus den Fügen geriet und seine Psycho noch mehr belastete. Sie nutze Filme, welche sie mit ihm gemeinsam die ganze Nacht schaute, um ihn zum einschlafen zu bringen und ihr Plan ging problemlos auf. Riccardo schlief zwar immer noch erst mitten in der Nacht an, doch wenigstens blieb er nicht mehr die ganze Zeit über wach.
Auch schaffte sie es Leonardo zu zügeln. Wie ein Tiger im Käfig ging er durch das Haus und explodierte von Zeit zu Zeit grundlos. Es reichte oft eine Kleinigkeit, um ihn auf hundertachzig zu bringen. Nur in ihrer Gegenwart hielt er sich zurück, als wollte er verhindern, dass ihn so sah. Oder aber, er versuchte seine Schwester vor seiner Wut zu beschützen.

"Hat sie was gegessen?" Ich lenkte meine Gedanken zurück zu meiner Frau und fokussierte mich auf ein Problem nach dem anderen.
Chiara schüttelte den Kopf und meine Augen sahen wieder direkt zur Tür. Mein Blick war so eindringlich, dass ich glaubte, es würde nicht mehr viel fehlen, bis sich ein Loch bilden würde.
"Ich hab heute morgen auch schon geklopft, doch sie antwortete mir nicht. Ich glaube, sie will alleine sein."

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drückte ich die Türklinke herunter, doch zu meiner Überraschung bewegte sich die Tür keinen Zentimeter.
"Abgeschlossen?"
Chiara klang verwirrt und auch für mich war das neu. Die letzten Tage hielt sie die Tür nur geschlossen, schloss sie aber nie ab.
"Hol den Ersatzschlüssel aus meinem Büro."
Meine Schwester nickte auf meine Bitte, die sich wie ein Befehl anhörte und machte sich zur Treppe auf.

Langsam reichte es!

Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit und mein Verstand malte sich alle möglichen Szenarien aus.
Ungeduldig wartete ich auf Chiaras Rückkehr und verscheuchte jeden negativen Gedanken.

Ich klopfte wieder gegen die Holztür, doch es kam keine Reaktion.

"Anastasia! Mach auf!"

Wieder nichts...

"Mach die scheiß Tür auf, oder aber ich trete sie ein!"

Stille.

Erneut hämmerte ich mit der Faust dagegen, doch es schien so, als würde sie es nicht stören...

...oder hören.

5. Depression

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