Kapitel 35

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Atlas

Ich hätte heulen können. Und das tat ich wirklich nicht oft! Als ich Averys Wohnung verließ, war mir ganz schlecht.

Ich hatte sie niemals so tief in mein Leben, in meine Verpflichtungen, hinein ziehen wollen. Als Oskar mir sein Handy hinhielt, auf dem bereits ein Bild von ihr prangte, wusste ich allerdings, dass es schon zu spät für sie war, um sie aus dem Rampenlicht heraus zu halten.

Wie hatte ich nur so egoistisch sein können und ihr das antun können?

Wortlos reichte ich Oskar sein Handy zurück. Meine Wut auf die Presse und all die anderen Stalker, die der Meinung waren, über jeden Schritt in meinem Leben informiert zu sein, war schon jetzt unermesslich groß. Und dabei stand ich noch nicht lange mitten im Rampenlicht.
Wie hatte das bloß mein Bruder all die Jahre ausgehalten, verdammt? Aber er hatte es auch einfach nicht anders gekannt.

Rhone war das absolute Musterkind gewesen, hatte immer sämtliche Erwartungen erfüllt, die an ihn gestellt wurden. Alle hatten mit großer Zuversicht zu ihm aufgeschaut, ihn sich schon von Anbeginn seines Lebens als zukünftigen König vorgestellt.

Und dann kam ich. Ich lachte kurz auf, was mir einen verwirrten Blick von Oskar einbrachte.

Rhone und ich hatten nie sonderlich viel Zeit miteinander verbracht, vermutlich hatten meine Eltern Angst gehabt, ich könne ihn negativ beeinflussen. Wer wusste das schon? Und obwohl unserere Verbindung nie sonderlich stark gewesen war, schmerzte es mich dennoch arg, dass er gestorben war. Und das lag nicht nur daran, dass es mein Leben in den Abgrund riss.

Hotack, einer meiner neuen Leibwächter, die ich nun immer würde mit mir herumschleppen müssen, steuerte den Wagen mit dem wir fuhren aus dem kleinen Örtchen heraus, in dem Avery lebte. Von außen musste ich fast wirken wie betäubt, so teilnahmslos wie ich da saß. Aber in meinem Inneren tobte es dafür umso mehr. Es war ein einziges Chaos an Gedanken und Emotionen und es drohte, mich nahezu zu überwältigen.

Ich hatte keinen Blick für die Landschaft, die an mir vorbeizog, hatte nur das Bild vor Augen, auf dem Avery an ihrer Haustüre stand und mich vermutlich am liebsten erdolcht hätte.

Ich wollte nicht heim in das elterliche Schloss fahren. Aber ich hatte keine Wahl. Denn nun war ich der neue Rhone, da konnte ich tun was ich wollte.

Als unser Wagen schließlich auf unserem großen Vorhof zum stehen kam, blieb ich eine kurze Weile einfach nur sitzen. Es dauerte nicht lange, und Oskar hatte bereits meine Tür geöffnet, während er mich abwartend und ein wenig aufmunternd ansah. Ich kannte ihn schon mein Leben lang und war froh, dass wenigstens er eine der wenigen Punkte in meinem Leben bleiben durfte, die sich nicht veränderten.

"Danke," flüsterte ich leise, während ich mich so schwerfällig erhob, als würde die Last des Königreichs schon jetzt auf mir liegen.

"Keine Ursache, Atlas!" Hinter mir schlug er die Tür wieder zu, während Hotack weiter fuhr, um den Wagen zu parken.

Es half ja alle nichts, ich musste wohl oder übel über meinen Schatten springen und mich meinen Verpflichtungen stellen. Hinter mir wurde direkt das Tor geschlossen und ich warf schnell noch einen Blick auf mein Handy, in der Hoffnung, Avery möge mir geschrieben haben.

Dann betrat ich das Gebäude.

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"Atlas! Na endlich bist du zurück! Ich brauche ja nicht fragen, wo du gewesen bist!"

Na prima, hatte sie das Bild also auch gesehen! Eilig kam meine Mutter auf mich zu, als hätte sie die ganze Zeit an der Eingangspforte gestanden und nur darauf gewartet, dass ich heim kam. Vermutlich hatte sie das aber auch tatsächlich getan.

Wortlos lief ich an ihr vorbei und verschwand im erstbesten Raum. Sie folgte mir direkt.

"Du musst endlich begreifen, dass du jetzt Verpflichtungen hast, Atlas. Du kannst nicht mehr den ganzen Tag tun und lassen was du willst. Das war mal dein Leben. Aber es ist es nicht mehr. Sei froh, dass du es überhaupt so ausleben durftest, das war Rhone... nie vergönnt!", ihre Stimme begann zu schwanken und ich konnte ihr ansehen, dass sie mit den Tränen kämpfte. Gestern Abend hatte sie sich allein in ihrem Schlafzimmer verzogen und vermutlich die gesamte Nacht über hindurchgeweint. Ihre Kosmetiker hatten es allerdings so gut drauf, dass man es ihr kaum ansah.

"Ich weiß, Mom...", flüsterte ich.

"Nein, scheinbar weißt du es nicht! Sonst wäre dieses Bild nicht entstanden!"

"Mag sein, dass du das nicht verstehst, aber ich war ihr eine Erklärung schuldig!"

"Du bist niemandem etwas schuldig, Atlas. Und ganz bestimmt nicht dieser Avery." Oh je, es stand schon schlimmer als ich gedacht hatte. Sie hatte sich also schon ganz genau über mein Leben informiert!

"Wem ich etwas schuldig bin und wem nicht geht niemanden etwas an. Ich bin volljährig, Mom!"

"Falsch, Atlas. Jetzt geht es die ganze Bevölkerung etwas an. Du bist die Zukunft und es wird Zeit, dass du das endlich begreifst! Und beende das, was auch immer da mit diesem Mädchen läuft, es wird Zeit, dass du diesen Fuckboyruf endlich los wirst!"

"Ich beende gar nix!", giftig sah ich sie an. Es mochte ja sein, dass sie gerade erst ein Kind verloren hatte, aber das hieß nicht, dass sie mich einfach nach Belieben hervorkramen und zu jemandem formen konnte, der ich nicht war.

Ich war nun einmal nicht Rhone!

"Und ob du das wirst, Atlas! Willst du uns etwa alle in den Ruin treiben? Du weißt doch, wie schnell ein Ruf zerstört werden kann!"
"Mom...", doch sie ließ mich gar nicht erst ausreden.

"Atlas, ich meine es ernst. Beende das mit diesem Mädchen. Und zwar sofort!"

"Nein!", nun schrie ich. Was bildete sie sich eigentlich ein, sich derartig in mein Leben einmischen zu müssen. "Den Teufel werde ich tun!"

"Das meinst du nicht wirklich, oder? Atlas?"

Wütend ließ ich sie stehen und verschwand in dem angrenzenden Flur. Avery alleine würde entscheiden, ob wir zusammenblieben oder nicht. Auf keinen Fall würde ich eine Beziehung wegen meiner Mutter beenden. Es war immer noch mein verdammtes Leben und nicht das ihre. Und ich hoffte aus tiefstem Herzen, dass Avery mich noch immer wollte! Aber würde sie wirklich ihr sorgloses und freies Leben für jemanden wie mich aufgeben? Für einen, der wie jemand im Gefägnis, keinen unbemerkten Schritt alleine machen konnte?

Sex(y) in der BoxWo Geschichten leben. Entdecke jetzt