Kapitel 54

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"Alsooo?" Abwartend wippte Genna auf ihrem Stuhl hin und her.

"Es ist... kompliziert...", fing ich an, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. "Ach wriklich?" Misstrauisch sah Genna mich an.

"Tee?", meine Mutter kam hereingeschneit und wedelte leicht mit ihrem Kännchen in der Luft herum. Ich nickte nur matt.

"Eigentlich nicht," meinte Atlas plötzlich. Alle Augen richteten sich auf ihn.

"Man hat Avery gemeinsam mit meinem Bruder Rhone entführt, weil man sich davon Lösegeld versprochen hat!"
"Ah ja?", konnte ich mir nicht verkneifen.

Atlas nickte bloß. "Wir dachten ja alle, wie ihr sicherlich mitbekommen habt, dass mein Bruder vor knappen zwei Wochen schon gestorben sei. War er aber nicht. Man hat es uns allen nur weiß machen wollen, weil wir das Lösegeld für ihn eine halbe Stunde zu spät geliefert hatten. Als Konsequenz entführte man Avery. Man wollte uns eine neue Chance geben, die Forderungen zu erfüllen. Und dieses Mal rechtzeitig. Rhone und Avery waren gemeinsam untergebracht worden und Rhone gelang es, sich eine Waffe anzueignen. Als man das bemerkt hatte, wollte man Avery töten. Von Rhone versprach man sich bei einer erneuten Lösgeldforderung mehr Geld. So gesehen als Drohung, dass Rhone seine Waffe wieder abgeben sollte, sollte sie nun sterben. Rhone hat seine Waffe auch abgegeben, doch man war wütend und wollte ihm zeigen, dass er weit davon entfernt war, Macht zu haben. Deswegen schoss man auf Avery. Doch Rhone hat sich vor sie ins Schussfeuer geworfen, sodass die Kugel ihn gänzlich durchdrungen hat, aber wenigstens nur noch leicht auf Avery weitergesprungen ist."

Na ja, immerhin war diese Version nicht ganz erfunden. Was mir wichtig war, und ich war mir recht sicher, dass Atlas das wusste, war, dass die Leute wussten, dass Rhone mein Leben gerettet hatte. Ich wollte, dass man seine Handlung mit Anerkennung belegte.

Genna und meine Mutter sahen Atlas mit großen Augen an.
"Wann kommt das jetzt im Klatschblatt?", erkundigte ich mich bei Atlas, um diese gruselige Stille zu unterbrechen, die eingetreten war.

"Schätze, vermutlich morgen oder so. Wundert mich, dass sie das nicht schon längst ist..."

"Avery, meine Güte. Du hättest sterben können!", stellte meine Mutter überflüssiger Weise fest.

"Wie konnte es denn je soweit kommen?"
"Das ist mir tatächlich auch schleierhaft. Aber ich kann versichern, dass ich zukünftig mein bestes tun werde, um auf Avery aufzupassen. Ich lasse es nicht zu, dass sich soetwas wiederholt!" Atlas Stimme klang fest und obwohl die Worte an meine mutter gerichtet waren, sah er dabei einzig und allein mich an. Und ich wusste, dass er jedes dieser Worte verdammt ernst meinte.

"Und wie soll das bitte sichergestellt werden?"

"Mom...," flehend sah ich sie an.

"Nein, Avery. Ich finde, sie hat jedes Recht, das zu fragen. Du bist ihre einzige Tochter und sie will dich nicht verlieren! Das kann ich verstehen! Ich lasse sie von meinen Leuten beschatten!"

"Du lässt was?", entgeistert sah ich ihn an. Atlas ergriff feste meine Hand: "Ich lasse nicht zu, dass man dir wieder etwas antun möchte, Avery."
"Aber du kannst mir auch nicht antun, dass ich keinen Schritt mehr alleine tun kann!"

"Du wirst niemanden bemerken, wenn du es nicht möchtest. Es ist gutes Personal, die sind auf Diskretion geschult!"
"Ach, du meinst wie der Typ im Krankenhaus?", es rutschte mir einfach so heraus und im nächsten Moment wurde ich auch schon knallrot.

"Der Typ im Krankenhaus?", hakte Genna direkt nach.

"Ja, wie mein Leibwächter im Krankenhaus!", bejahte er sofort. "Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass es mit mir nicht immer leicht wird, dass du in manchen Punkten zurückstecken würdest, wenn du mit mir zusammen kommst," erinnerte er mich.

"Na ja, von Anfang an..."
"Von dem Anfang an, als es anfing, eine Rolle zu spielen, ob wir zusammen sind, oder nicht," präzisierte er. Er hatte Recht, trotzdem fand ich den Gedanken an einen persönlichen Leibwächter nicht so toll.

"Ich finde auch, dass das überhaupt nicht zur Diskussion steht, Avery!", mischte sich meine Mutter wieder ein. Ich rollte bloß mit den Augen. Gegen Atlas alleine konnte es ja schon  schwer sein, anzukämpfen. Aber gegen meine Mutter und ihn gleichzeitig? No chance!

"Darüber reden wir noch, Atlas!", war darum alles, worauf ich mich beschränkte.

"Okay, ganz wie du magst. Aber ich werde meine Meinung dazu wohl kaum ändern!"
Streng sah ich ihn an. Und er erwiderte meinen Blick. Seine leuchtend grünen Augen, die mich so unnachgiebig musterten. Irgendwann gab ich nach und lenkte den Blick ab. Das war ja peinlich, wie wir uns hier aufführten. Atlas schien da ja wirklich gar keine Charme zu haben!

"Ich weiß gar nicht, wie ich Rhone dafür danken kann, dass er meine Tochter geschützt hat!", flüsterte meine Mutter plötzlich und mir huschte bei ihrem Tonfall ein Schauer über den Rücken.

"Wurden diese Verbrecher denn jetzt endlich gefasst?", erkundigte sich Genna.
"Ja, das wurden sie. Und sie werden das Sonnenlicht so schnell wphl nicht mehr sehen, so tief liegen ihre Zellen!" Atlas schluckte bei diesen Worten einmal kurz. Ich wollte gar nicht wissen, wie schwer es sein musste, zu verarbeiten, dass seine eigene Mutter ein absolutes Monster war. Der einzige Grund, weshalb ich mit Atlas Situation hätte tauschen wollen, wäre der, dass ich ihn gerne von diesem Schmerz befreit hätte, sei es auch nur für einen kuren Augenblick.

Es musste doch wirklich ein unglaubliches Gewicht auf ihm lasten! Aber zugegeben, spätestens nach Rhones Tod lastete es auch auf mir. Die Ereignisse der letzten Tage hatten wohl uns beide schwer verändert, daran gab es sicherlich keinen Zweifel. Aber das wirklich wichtige war jetzt wohl, dass wir einander hatten -  uns gegenseitig Kraft schenken konnten, wann immer wir sie am meisten nötig hatten.

Denn es gab eine Sache, derer ich mir mit jedem Tag der verstrich immer sicherer wurde. Es waren wenige simple Worte, aber sie nahmen in meinem Kopf eine immer klarere Form an: Ich liebte Atlas und es gab absolut nichts mehr auf der verdammten Welt, das daran noch etwas hätte ändern können!

"Morgen ist die Beerdigung Rhones. Wenn ihr mögt, könnt ihr Beiden gerne kommen!", bot Atlas plötzlich an und riss mich damit gänzlich aus meinen Gedanken.

Ich hatte mit Atlas gestern schon längst über die Beerdigung gesprochen gehabt. Selbstverständlich war es für mich gar keine Frage gewesen, dass ich hingehen würde. Man durfte nicht vergessen, dass er überhaupt nur wegen mir tot war!

"Klar komme ich!", meine Mutter sah mich an, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Genna nickte bloß: "Ich komme auch. Jemand, der das Leben meiner besten Freundin gerettet hat, sollte einem das auf alle Fälle wert sein!"

Ich lächelte traurig.

"Danke," flüsterte ich.

Sex(y) in der BoxWo Geschichten leben. Entdecke jetzt