Kapitel 2

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„Harry, bitte, geh einfach wieder", sagte Louis leise.
„Sag mir doch einfach was passiert ist. Ich kann dich hier nicht so zurücklassen. Auch wenn wir uns seit ..." ich überlegte kurz, „fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen haben ..." Er unterbrach mich.
„Lass es gut sein." Er verschränkte seine Finger wieder ineinander und ließ den Kopf hängen.
„Du kennst mich. Jetzt ist es auch mein Problem. Louis, du warst mal mein bester Freund. Ich will dir doch nur helfen."
„Wir waren Freunde ... das ist schon lange her", erwiderte er und fügte noch flüsternd hinzu „Ein anderes Leben."

Das war es allerdings. Viele Jahre waren mittlerweile vergangen, seit unserem Abschluss an der High-School. Wir lernten uns dort kennen und es dauerte nur einen Moment, bis wir unzertrennlich waren, fast wie Brüder. Wir spielten gemeinsam Football und auch sonst verbrachten wir jede freie Minute miteinander. Leider trennten sich unsere Wege. Ich blieb in New York und studierte Jura an der NYU. Louis verschlug es nach San Francisco an die Academy of Art. Er studierte irgendwas mit Werbung und Grafikdesign, wenn ich mich recht erinnerte. Er war damals der Beste aus unserem High-School-Jahrgang und auch hörte ich von meiner Mum, dass er die Uni mit Auszeichnung abgeschlossen hatte.

Während unseres Studiums verloren wir nach und nach den Kontakt, obwohl wir uns geschworen hatten, dass dies nicht passieren würde. Am Anfang telefonierten wir viel und redeten über unsere Kurse, aber wir schafften es einfach nicht uns zu treffen. Was damals furchtbar für mich war. Er war mein Freund, mein Vertrauter. Er fehlte mir, sehr sogar. Aber so läuft das Leben eben manchmal. Man verliert sich aus den Augen und trifft sich an den unwirklichsten Orten wieder. Und das hier war einer davon.

„Okay, ich bin jetzt dein Anwalt, ob du das nun willst oder nicht. Und als dieser, empfehle ich dir dringend, mit mir zu reden. Ich kann dir helfen, aber nur wenn du mich lässt", versuchte ich zu intervenieren. Da er nicht reagierte, nahm ich mein Handy und las den Polizeibericht, den mir Tom in der E-Mail angehangen hatte.

„Im Bericht steht, dass der Fahrer nicht erkannt, aber dein Auto am Unfallort gesichtet wurde. Es gab einen Zeugen, der sich das Nummernschild gemerkt hat. Aber auch, dass dein Auto in letzter Zeit schon dreimal gestohlen wurde." Das wurde auch von der Polizei bestätigt, da Louis immer Anzeige erstattet hatte. Der Wagen wurde ein paar Straßen entfernt vom Unfallort gefunden. Dieser war sehr ramponiert, die hinteren Scheiben eingeschlagen, das Schloss beschädigt und hatte überall Kratzer und Dellen. Es waren eine Menge Fingerabdrücke gefunden worden, welche sich nicht zuordnen ließen. Also war es eher eine Annahme, dass Louis den Unfall verursacht hatte, da ihm der Wagen gehörte. Aber es gab keinerlei Beweise, nur Indizien.

„Harry, ich ..." Er knetete seine Hände und wurde zunehmend nervöser. Ich hatte schon mit genug zwielichtigen Gestalten Bekanntschaft gemacht und merkte, wenn etwas nicht stimmte. Aber wer würde in so einer Situation nicht die Nerven verlieren?

„Egal, was du mir erzählst, es bleibt in diesen vier Wänden." Er schwieg.
Ich sah auf die Uhr, die Zeit wurde knapp.
„Louis, ich weiß, dass hier ist gerade alles sehr viel für dich. Aber du musst mir schon etwas an die Hand geben", versuchte ich auf ihn einzugehen. Er blickte mich an und wirkte irgendwie verloren. Pure Angst stand in seinen Augen. Auch wenn er sich nach außen taff geben wollte, sah es innerlich anders aus. Dessen war ich mir sicher. Aber er brauchte kein Mitleid von mir, sondern meine anwaltliche Unterstützung.

„Saßt du am Steuer dieses Wagens?", fragte ich geradeheraus. Er schien zu überlegen und schüttelte dann leicht den Kopf.
„Warst du zu Hause in dieser Nacht?" Er nickte. Gut, damit konnte ich arbeiten.

Ich sah nochmal in die E-Mail und entdeckte jetzt erst die Adresse seines ehemaligen Wohnsitzes. Gott, das war einer der schlimmsten und ärmsten Ecken der Stadt. Wie war er denn dort nur gelandet? Ich hatte tausend Fragen in meinem Kopf, aber ich musste mich jetzt auf das Wesentliche konzentrieren. Ich fragte ihn noch nach ein paar Details, aber richtig viel bekam ich leider nicht aus ihm heraus. Dann ging die Tür auf und wir wurden in den Gerichtssaal geführt.

Louis saß neben mir und wurde immer kleiner.
„Setz dich gerade hin. Zeig ein bisschen Respekt vor dem Richter", flüsterte ich ihm zu. Er hob den Kopf und straffte seine Schultern. Der Richter sah uns mürrisch an. Ich hoffte inständig, er hatte nicht zu schlechte Laune.

Ich trug Louis Fall vor und wies mehrfach auf die Möglichkeit hin, dass auch eine andere Person gefahren sein könnte und es keine Beweise gab, dass mein Mandant am Steuer des Wagens gesessen hatte. Er war nicht vorbestraft und es bestände auch keine Fluchtgefahr. Hoffte ich. Aber alles, was ich sagte, sog ich mir aus den Fingern und dem Polizeibericht. Zu der Tatnacht hatte er sich nicht explizit geäußert. Aber egal wie, er war mein Klient und Freund und ich musste alles tun, um ihn hier herauszuholen.

„Ich sehe der Angeklagte hat keinen Wohnsitz mehr. Wo wird er denn unterkommen bis zu seiner Verhandlung, falls ich eine Kaution bewillige?", fragte der Richter und rückte seine Robe zurecht.
Gute Frage, dachte ich mir. Zu seinen Eltern wollte er mit Sicherheit nicht, obwohl ich mir nicht erklären konnte, warum. Er hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihnen.
„Ich höre, Herr Anwalt", wurde ich aus meinen Gedanken gerissen.
„Er wird vorerst bei mir wohnen. Wir kennen uns seit vielen Jahren und ich verbürge mich für ihn", platzte es aus mir heraus, denn etwas Besseres fiel mir nicht ein. Louis und der Richter hatten ungefähr den gleichen entsetzten Gesichtsausdruck als sie mich ansahen.

„Das ist nicht gerade üblich", bemerkt der Richter. „Da er in ihrer Obhut ist, setzte ich die Kaution auf 30.000 Dollar fest. Sorgen Sie dafür, dass er zur Verhandlung erscheint, sonst bekommen Sie es persönlich mit mir zu tun", fügte er noch hinzu und schlug mit seinem Hammer auf den Richtertisch.

Ich starrte ihn einen Augenblick an. Was sollte das denn heißen? Manche Richter waren etwas ... eigenartig, um es milde auszudrücken.
„Komm", sagte ich zu Louis. Er stand auf und lief langsam hinter mir her.
„Danke Harry, aber wie bereits erwähnt, habe ich kein Geld und du kannst doch keine 30.000 Dollar ..."
„Ich kümmere mich darum", antwortete ich und drückte ihn auf eine Bank, um das mit der Kaution zu klären.
„Nein. Das ist mein Problem ...", fing er wieder an.
„Welches du gerade nicht beheben kannst. Ich hinterlege das Geld. Basta." Ich drehte mich um und ließ ihn allein. Wollte er denn lieber monatelang im Knast sitzen? Bei unseren überlasteten Gerichten konnte es mitunter ewig dauern, bis man einen Verhandlungstermin bekam. Ich konnte ihn nicht diesem Schicksal überlassen. Louis war ein guter Mensch, der Beste, den ich kannte. Damals zumindest. Was auch immer ihm widerfahren war, dass hier hatte er nicht verdient.

Als ich den ganzen bürokratischen Mist erledigt hatte, sammelte ich Louis wieder ein. Er sah wie ein Häufchen Elend aus, wie er dort auf dieser Bank saß.
„Lass uns hier verschwinden", sagte ich und legte ihm die Hand auf die Schulter. Langsam stand er auf und wir liefen stumm nebeneinander her.
„Wo hast du die Sachen aus deiner alten Wohnung?", fragte ich.
„Ich hatte nur ein paar Klamotten dort. Nichts an was ich hänge. Ich gehe davon aus, dass mein alter Vermieter, diese schon entsorgt hat", antwortete er.
„Okay, du kannst ja erst mal etwas von mir haben."
„Warum tust du das alles? Du bist mir doch nichts schuldig." Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Darum geht es doch gar nicht. Du würdest das Gleiche für mich tun", entgegnete ich. Darauf erwiderte er allerdings nichts.

High Walls - Larry Stylinson FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt