Kapitel 29

117 22 57
                                    

Mit langsamen Schritten ging ich voran. Ich wollte niemanden erschrecken. Von Weitem sah ich Tom, der sich mit einem älteren Herrn unterhielt, der immer wieder meinem Kollegen seine Hand auf die Schulter legte. Vielleicht machte ich mich doch zu verrückt.

„Was willst du hier?", polterte plötzlich eine tiefe Stimme los, die mich zusammenzucken ließ. Er kam aus dem Nichts und mein Herz hämmerte jetzt so stark in meiner Brust, dass es mich am Denken hinderte.

„Ich ... ähm ... bin hier ... also ich ... habe eine Frage", brachte ich bruchstückweise aus meinem Mund, da der Mann sich jetzt vor mir positioniert hatte und schon recht einschüchternd wirkte. Er war einen Kopf größer als ich und sein Bizeps, welcher sich unter dem Pullover abzeichnete, ließ mich schlucken. Seine Haare waren bereits weiß, aber seine grauen Augen hellwach.

„Matt ... hör auf dem Jungen Angst zu machen", hörte ich eine Frau sagen, die auf uns zugelaufen kam.
„Lass dich von ihm nicht ärgern. Er sieht zwar aus wie ein Bär, aber im Herzen ist er eher ein Teddy." Sie lachte und Matt verzog seinen Mund.

„Wie können wir dir helfen, Jungchen?", fragte mich die grauhaarige Frau. Ich würde sie auf Anfang sechzig schätzen. Sie war recht klein, hatte ein freundliches Lächeln und ihre Augen strahlten eine unglaubliche Wärme aus, sodass ich mich etwas beruhigte.

„Mein Name ist Harry. Ich bin Anwalt und ..."
„Na großartig, genauso einen können wir hier gebrauchen", unterbrach mich Matt.
„Jetzt lass ihn doch ausreden. Ich bin übrigens Tilda", stellte sie sich vor.
„Freut mich", antwortete ich.
„Ja, ganz bestimmt", murmelte Matt und machte sich langsam aus dem Staub. Ich sah ihm nach und wandte mich dann wieder Tilda zu.

„Ach, kümmere dich nicht um ihn. Er hat es nicht so mit Anwälten. Nach seiner Scheidung verlor er fast alles, was er hatte und landete hier bei uns."
„Oh, das tut mir leid", sagte ich und sah noch einmal hinüber zu Matt.
„Muss es nicht, außer du warst der Anwalt seiner Frau?", bemerkte sie und grinste.

„Ähm ... nein. Ich beschäftige mich nicht mit Scheidungsrecht. Eher mit ... Steuern ..." Sie fing an zu lachen und ich lächelte verlegen, da ich erst zu spät raffte, dass es sich lediglich um einen Scherz handelte.
„Was hast du auf dem Herzen, Kleiner?", fragte sie nun und ging ein paar Schritte.

„Ich habe ein paar Fragen zu einem Unfall, der sich hier vor ein paar Wochen ereignet hat. Es ging um eine Frau, die dabei ihr Leben verlor. Ich würde gern wissen, ob jemand den Fahrer des Wagens erkannt oder mir irgendwelche Anhaltspunkte geben kann, wie genau sich der Unfall zugetragen hat?" Tilda sah hoch zu mir, während wir nebeneinander herliefen.

„Das war eine furchtbare Nacht. Sophia war eine gute Frau."
„Sie kannten sie?"
„Ja, gewiss. Hier gibt es keine Türen, hinter denen man sich verstecken kann, Jungchen. Wir sind eine Gruppe von zwanzig Leuten und ein bisschen wie Familie", erklärte sie.
„Das ist schön." Ich nickte ihr zu. „Hat jemand gesehen, was an dem Abend passiert ist?"

Abrupt blieb sie stehen, musterte mich eingehend und legte den Kopf schief. Ihre Augen kniff sie zusammen und ich hatte das Gefühl, wenn ich nur ein falsches Wort sagen würde, dann käme Matt und würde mich ungespitzt in den Boden rammen. Aber zum Glück wurden ihre Gesichtszüge wieder weicher und ich atmete aus. Wir gingen noch ein paar Meter, dann blieben wir wieder stehen. Ich folgte ihrem Blick und dieser ließ mich genau auf die Unfallstelle sehen.

„Ich stand genau hier als der Wagen kam", sagte sie.
„Ach ... wirklich?" Von der Seite starrte ich sie an und wartete darauf, dass sie weitersprach.
„Ja. Gertrud war sehr krank und ich wollte gerade nochmal nach ihr sehen, da erregte irgendetwas hinter den Müllcontainern meine Aufmerksamkeit. Es war schon spät und hier waren keine Menschen mehr unterwegs. Ich dachte anfangs, jemand sucht nach etwas Essbaren, auch wenn dieser jemand nicht zu unserer Gruppe gehören konnte. Dachte ich zumindest."

High Walls - Larry Stylinson FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt