Kapitel 28

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Wir gingen nebeneinander her und ich blickte mich um. Diese Gegend war nicht sehr einladend. Überall lagen Müllsäcke herum, es roch nach Urin und anderen Sachen, von denen ich den Ursprung nicht so genau wissen wollten. Die Häuserblocks, die hier standen, sahen schon sehr heruntergekommen aus. Aber sie waren bewohnt, zumindest machte es den Eindruck. Manche Fenster der Wohnungen waren zerbrochen und aufgrund dessen mit Brettern vernagelt. Im Gegensatz zu dem New York, welches ich kannte, war das hier absolut erschreckend. Und nicht allzu weit von hier, hatte auch Louis gewohnt. Wir gelangten an die Kreuzung und Tom drehte sich langsam im Kreis. Wahrscheinlich wollte er sich einen Überblick verschaffen.

Gegenüber der Straße lag eine große Brücke, die einen riesigen Schatten warf und das machte die Gegend gleich noch unheimlicher. Die Sonne schien, aber ein paar Meter weiter geradeaus, war es dunkel. Ich schirmte meine Augen etwas ab und erkannte, dass sich unter der Brücke ein paar Leute aufhielten. Sie saßen auf Pappkartons und eine Frau fuhr einen Einkaufswagen vor sich her, der reich beladen war mit ... keine Ahnung was. Oh Gott, ... ich war tatsächlich noch nie in den schlimmen Ecken meiner Heimatstadt gewesen. Da wo ich aufgewachsen war und jetzt lebte, bekam man nicht das Ausmaß davon mit, wie viele Menschen auf der Straße lebten. Sie wurden an den Rand der Stadt gekehrt, nach dem Motto, aus den Augen, aus dem Sinn. Jeder wusste über die Menge an Obdachlosen Bescheid, aber das Thema zu ignorieren und am Ende jeden Jahres einen Scheck als Spende auszustellen, um sein Gewissen zu beruhigen, war für die meisten genug. Und ich stellte da keine Ausnahme dar.

„Harry, wo genau ist der Unfall passiert?", fragte Tom und sah mich wartend an. Ich ging ein paar Schritte und blieb stehen.

„Ich glaube hier. Es sieht so aus wie auf den Fotos der Polizei." Wir standen neben ein paar großen Müllcontainern und ich machte ein paar Schritte nach vorn, um die Straße vollständig einsehen zu können. Durch die Container war ich vollkommen verdeckt und Autofahrer hätten mich nicht wahrgenommen, wenn ich plötzlich auftauchte. Ich indessen konnte zwischen den Containern hindurchsehen und erkannte die Straße. Keine Ahnung, warum ich mich dafür interessierte, aber wer weiß, wozu es gut war.

„Und was machen wir jetzt?" Ich sah mich nervös um und hatte das Gefühl, die Luft in meinen Lungen wurde knapp. Hier war also die Frau gestorben, die Louis angeblich überfahren haben sollte. Irgendwie holte mich die Realität gerade recht schnell ein und Bilder aus dem Gericht flammten vor meinem inneren Auge auf, als Louis vor mir saß, total verzweifelt und ängstlich. Ich durfte es nicht verbocken, ich durfte den Fall nicht an die Wand fahren, ich durfte ihn nicht verlieren. Scheiße ... eindeutig zu viel Druck.

Verdammt ... ich würde es so was von verkacken. Und dann würde Louis im Gefängnis verrotten und alles nur, weil ich mich in ihn verliebt hatte. Weil ich meine Gefühle nicht in den Griff bekommen hatte, weil ich ein furchtbarer Anwalt und Strafrecht noch nicht einmal mein eigentliches Gebiet war. Weil ich einfach ein riesengroßer Idiot war und einen Fehler begangen hatte. Alles lief falsch.

„Harry, geht's dir gut? Was hast du denn?" Meine Atmung war flach und ich konnte mich gerade nicht beruhigen. Ich starrte Tom aus weit aufgerissenen Augen an.
„Langsam atmen ... alles ist gut. Wir kriegen das hin. Okay?"

„Nein ... kriegen wir nicht. Ich werde es nicht schaffen. Wir müssen ihm einen anderen Verteidiger besorgen. Hilfst du mir? Ich kann das nicht allein." Ich war kurz davor umzufallen, zumindest hatte ich das Gefühl. Warum mich diese Erkenntnis ausgerechnet in diesem Augenblick überrollen musste ...? Bisher hatte ich eine klare Meinung dazu und vertrat sie, aber jetzt ...?

„Reiß dich mal zusammen. Wir sind hier, um etwas herauszufinden, was Louis helfen kann. Und du wolltest diesen Fall. Du hast dich daran festgeklammert wie ein Koala. Auch wenn ich es am Anfang nicht richtig fand, denke ich jetzt, dass du der richtige Anwalt für Louis bist."

„Wieso hast du deine Meinung geändert?", fragte ich unsicher.
„Es gibt keine Beweise, dass Louis das Auto gefahren hat oder nicht? Eigentlich gibt es gar nichts. Nur Behauptungen und die kann nur jemand entkräften, der ihn kennt und für ihn eintritt, und zwar mit aller Leidenschaft, die er aufbringen kann, um die Geschworenen zu überzeugen. Harry, du bekommst das hin. Wenn nicht du, wer dann?" Beruhigend fuhr er mir über den Rücken und meine aufgewühlten Gedanken kamen wieder runter.

„Ein Koala?" Tom lachte und schleifte mich hinter sich her in einen kleinen Laden, den er auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckt hatte.

Die Glocke über der Eingangstür ertönte, als Tom und ich den Laden betraten. Hier sah es anders aus als in den Geschäften in meiner Straße oder in allen anderen Geschäften, die ich jemals von innen gesehen hatte. Es war sehr beengt und schmutzig. Der Ladenbesitzer saß hinter einer dicken Glasscheibe und es gab nur ein kleines Loch, wahrscheinlich um Geld durchzureichen und um miteinander zu sprechen. Es war beängstigend, musste ich mir eingestehen.

„Hi", sagte Tom und ich drehte mich zu ihm um. Warum war er so viel mutiger als ich?
„Was wollt ihr hier?", hörte ich, den schon in die Jahre gekommenen Mann murmeln. Er sah uns misstrauisch, unter seinen buschigen weiß-grauen Augenbrauen, an.

„Wir haben ein paar Fragen zu einem Unfall, der vor ein paar Wochen hier passiert ist. Dabei ist eine Frau ums Leben gekommen. Können Sie sich daran erinnern?", fragte Tom.
„Kann schon sein", entgegnete er und zuckte mit den Schultern.
„Haben Sie den Unfall gesehen? Ich meine den Fahrer?"

„Wie viel ist dir diese Information denn wert?" Der Mann grinste herausfordernd und zeigte dabei seine braunen Zähne. Tom holte sein Portemonnaie hervor und gab dem Mann ein paar Dollar. Er beäugte die Scheine und schüttelte dann den Kopf. „Nein, ich habe nichts gesehen. Ich habe nur den Krach gehört. Hier kann man sich nie sicher sein, wer gerade abgeknallt wird. Ich habe nur das Auto wieder wegfahren sehen, aber das habe ich auch schon der Polizei gesagt." Das war also der Typ, der sich das Nummernschildes gemerkt hatte.

„Hätten Sie vielleicht eine Idee, wer noch etwas gesehen haben könnte?", bohrte Tom weiter nach.
„Vielleicht die Leute auf der Straße. Keine Ahnung. Und wenn ihr nichts kaufen wollt, verschwindet hier", motzte er uns plötzlich an.
„Trotzdem vielen Dank", antwortete Tom und blieb, wie immer höflich, während ich es nicht gut fand, dass er uns abgezockt hatte, obwohl er wusste, dass er uns nicht helfen konnte.

„Na, das hat uns ja sehr weit gebracht. Jetzt wissen wir genauso viel wie vorher", beschwerte ich mich.
„Harry, dachtest du denn, dass wir hierherkommen und das auf wundersame Art und Weise Beweise auftauchen, die ganz klar Louis Unschuld untermauern?", fragte mich Tom.
„Eigentlich schon. Ich hatte es gehofft", gab ich zu. Etwas einfältig von mir.

„Lass uns noch mit ein paar Leuten reden. Gib doch nicht gleich auf. Ich dachte, du bist heute der motivierte Part von uns?" Ich legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf in den blauen Himmel und musste unwillkürlich an Louis Augen denken. Tom packte mich am Arm und zerrte mich in den Schatten der Brücke. Sofort bekam ich eine Gänsehaut.

„So, wir teilen uns jetzt auf. Ich habe heute Nachmittag noch einen Termin und wir müssen ein bisschen schneller vorankommen. Du gehst nach links und ich nach rechts. Und sieh bitte nicht aus, wie ein verschrecktes Reh", teilte er mir noch mit und ließ mich einfach stehen.

„Sollten wir nicht lieber zusammenbleiben?", rief ich ihm nach und zog damit ein paar Blicke auf mich. Tom reagierte nicht darauf und ich fragte mich gerade mal wieder, ob ich meinen besten Freund eigentlich kannte. Er hatte viele verschiedene Seiten an sich. Der unerschrockene Privatdetektiv war mir allerdings neu. Und ich? Stand hier wie angewurzelt herum, obwohl es meine Idee und dazu noch ein dringendes Bedürfnis meinerseits war, etwas herauszufinden.

Ich sah mich noch einmal kurz um und lief langsam zu den obdachlosen Menschen, die ihr Leben anscheinend unter dieser Brücke fristen mussten. Tatsächlich hatte ich bisher nie mit diesen Menschen geredet. Warum nannte ich sie diese Menschen? Sie waren nicht anders als ich und dass man im Leben abrutschen konnte und auf der Straße landete, war nichts Neues. Das geschah jeden Tag. Mag es durch Arbeitslosigkeit, Familienprobleme oder Gott weiß was geschehen. Es war die Realität und auch Louis war einer von Ihnen. Er hatte zwar ein Dach über dem Kopf gehabt, aber ich war mir nicht sicher, wie dieses ausgesehen hatte. Er war der Meister des Schweigens, wenn es um seine Vergangenheit ging. Ich sollte mich jetzt aber auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Keine Ahnung, wie die Leute mir gegenübertreten würden. Mit Sicherheit hatte ich mehr Angst vor ihnen als sie vor mir.

High Walls - Larry Stylinson FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt