Kapitel XXXIX

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Dante

Anastasia schlief noch, als ich morgens das Schlafzimmer verließ. Ich hatte erst in der Nacht mitbekommen, dass sie neben mir lag. Als ich abends das Zimmer betrat und sie nicht dort war, nahm ich an, dass sie sich ein anderes Zimmer im Haus gesucht hatte. Es wäre zwar das erste mal, doch es bestand die Möglichkeit, dass ihr unsere vier Wände bereits die Luft abschnürten und sie eine Abwechslung von dem Zimmer brauchte, in welches sie sich für Tage eingeschlossen hatte.
Die Tatsache, dass sie sich zu mir ins Bett gelegt hatte, könnte ein kleiner Schritt in Richtung Normalität sein.

Ich griff nach meinem Bürotelefon und wählte die Nummer eines unserer Lageristen. Die neue Lieferung würde heute Abend ankommen und die Einzelheiten mussten noch abgesprochen werden.

Gerade, als ich auflegen wollte, klopfte es an meiner Tür.
"Herein."
Ich legte den Hörer nieder und fokussierte meine Aufmerksamkeit auf den Büroeingang.
Luca kam mit einem neutralen Gesichtsausdruck in den Raum und unsere Blicke kreuzten sich.
"Fratello, Vater hat gerade angerufen. Er und Mama sind in Rom angekommen." (Bruder)
Ich nickte und widmete mich dann wieder den Dokumenten.
Mama und Papa waren heute morgen losgefahren. Er wollte zunächst auch Großmutter mitnehmen, doch sie weigerte sich.
Ich schätze sie wollte ihre Trauer in der Nähe ihrer Enkel durchleben, während für meine Mutter die Distanz zum Haus, in welchem Isabella aufwuchs, die bessere Weise war ihre Trauer zu bewältigen.

Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich. Dieses Zitat des russischen Schriftstellers Tolstoi tauchte in meinen Gedanken auf und brachte mich zum nächsten Punkt meiner Tagesordnung. Neben der Trauer meiner Familie und dem brennenden Verlangen nach Rache und Vergeltung gab es noch ein weiteres Problem, dem ich mich widmen musste.
"Ist Boris im Haus?" Luca wollte gerade wieder gehen, blieb bei meiner Frage jedoch stehen.
"Ja, ich hab ihn auf der Terrasse mit dem Hund gesehen."
Ich stand auf und ging um meinen Tisch herum.
"Gut. "
Gemeinsam verließen wir mein Büro und ich machte mich auf den Weg zur Terrasse.
Wie von Luca beschrieben stand Boris Petrov dort und versuchte dem Welpen meiner Frau Kommandos beizubringen.
"Сидеть!" (Sitz)
Der Hund schaute ihn verwirrt an, den Kopf leicht nach links gelehnt.
"Сидеть!" (Sitz)
Boris Ton wurde mit jedem Mal weniger kraftvoll und ich war mir sicher, dass der Hund dieses Kräftemessen gewinnen würde.
"Апорт!" (Zerreiß/Zerfetz)
Er änderte das Kommando, in der Hoffnung der Welpe würde seinem Befehl diesmal nachkommen.
Ich schaute mir dieses Spektakel noch einige Minuten an, ehe ich mich mit einem Huster bemerkbar machte.
Boris hob augenblicklich den Kopf und schaute zu uns herüber.
"Ich schätze er spricht kein russisch?"
Luca ging zu dem Hund herüber und befestigte eine Leine an seinem Halsband. "In einem italienischem Haushalt?! Eher nicht."
Wie immer verstand mein Bruder, dass ich ein Gespräch unter vier Augen mit Boris suchte, sodass ich ihn nicht erst darum bitten musste, den Hund wegzubringen.

Als wir alleine waren, streckte ich einen Arm in Richtung des Gartens aus.
"Gehen wir ein Stück."
Der Onkel meiner Frau nickte, doch in seinen Augen funkelte die Neugier auf. Es kam nicht oft vor, dass wir ein Gespräch führten, geschweige denn nur zur zweit, weshalb sein Interesse berechtigt war.
Wir durchquerten den vorderen Garten und kamen an der großen Fläche hinter dem Haus an. Dieses Gelände diente uns immer als Veranstaltungsort, wieso wir hier ungestört reden konnten.

Boris blieb stehen, denn auch er verstand, dass wir angekommen waren. Ich hingegen ging noch ein paar Schritte weiter und drehte mich mit dem Rücken von ihm ab, den Blick zum Horizont gerichtet.
"Wann erzählst du es ihr?"
Meine Stimme eröffnete das Gespräch, welches bereits überfällig war. Ich wollte ihm genug Zeit geben das Thema selbst anzusprechen, doch die Tage vergingen und eine Katastrophe jagte die andere, weshalb er das Gelegenheit jetzt nutzten sollte, ehe uns das nächste Unglück trifft.
"Was meinst du? Wem soll ich was erzählen."
Ich drehte mich zu Boris um und sah in seinen gespielt verwirrten Gesichtsausdruck.
Dieser Mann unterschied sich eindeutig von seinem Bruder, ee war klüger und vorausschauender. Er wusste genau, wen und was ich meinte, so wie er auch sicher bezüglich dem war, dass ich sein Geheimnis kannte.
Sich dumm zu stellen, war der Versuch herauszufinden, ob ich meine Maske fallen lassen würde, oder weiter eine Rolle in dem Spiel des Schweigens einnehme.

Mein eindringlicher Blick durchbohrte ihn und übermittelte meine Antwort, ohne ein Wort zu verwenden.
"Seit wann weißt du es?"
Anscheinend ließen wir die Fassade zwischen uns fallen und würden endlich Klartext miteinander reden.
"Schon eine Weile. Ich hab gewartet, bis du es ihr selbst sagst, doch da du es immer noch nicht getan hast, musste ich mich einmischen."

"Diese Information, die du mich zwingen willst ihr mitzuteilen, hilft ihr nicht weiter, es hilft keinem von uns. Es sind so viele Jahre vergangen, ohne dass darüber ein Wort gefallen ist, wieso es also aufwühlen? Das bringt nichts als noch mehr Schmerz und Misstrauen, besonders jetzt, wo sie trauert."
Ich wusste nicht, wie viel davon bloße Ausrede und was ehrliche Angst vor Anastasias Reaktion war, doch dieser Mann versuchte mir die Hände zu fesseln, indem er Anastasias Gefühle in den Vordergrund stellte.
"Denkst du wirklich, dass, wenn ich in der Lage bin dein best gehüttetest Geheimnis zu erfahren, ich ahnungslos darüber wäre, was in meinem Haus vor sich geht?!"
Mit dieser Antwort gab ich ihm etwas Stoff zum Nachdenken, doch es dauerte nicht lange, bis er die Puzzleteil zusammen setzte.
"Du weißt von Anastasias Plan?"
Ein schiefes Grinsen bildete sich auf meinen Lippen.
Glaubte er wirklich, ich wusste nicht, was meine Frau Nachts tat?!

"Nur weil ich ihr erlaube sich Nachts mit euch in einer verlassenen Lagerhalle zu treffen und Rachepläne zu schmieden, heißt das nicht, dass ich ahnungslos bin."
Wir setzten uns wieder in Bewegung und maschierten die Fläche ab.
"Du erlaubst ihr also diesen Wahrnsinn?"
Das war eine gute Frage, denn ich war mir bei der Antwort nicht wirklich sicher.
Es ihr zu verbieten hätte nichts gebracht, diese Lektion hatte ich aus unserer Ehe bereits gelernt.
"Wenn Anastasia sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann steuert sie stur auf ihr Ziel zu, egal was passiert.
Meine Aufgabe besteht nicht daran sie aufzuhalten, sondern den Pfad freizuräumen auf dem sie geht. So lange ich die Kontrolle über die Geschwindigkeit habe, mit der sie sich bewegt, lass ich sie gehen."
Näher an der Wahrheit hätte ich meine Aussage nicht formulieren können.

"Du weiß also von der Lagerhalle und von meinem Geheimnis...Und was jetzt?"
Er machte eine kurze Pause, eher er wieder anfing.
"Entweder ich erzähle es ihr, oder du tust es? Sowas in der Art?"
Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass mir dieser Gedanke niemals gekommen war, nur leider fehlte mir dazu das Recht.
Sie sollte diese Nachricht nicht von mir erhalten, eigentlich von niemanden als ihn selbst.

"Du bist ein erwachsener Mann Boris, deine Fehler sind deine Fehler und deine Geheimnisse gehören genauso dir. Doch bist du nicht hier, an ihrer Seite, um Anastasia die Wahrheit zu sagen?"

Er ließ keine Sekunde vergehen, bevor er mir antwortete.
"Das würde sie zerstören. Jetzt, wo Ivan nicht mehr da ist, könnte sie das Wissen noch weiter in die Dunkelheit stoßen."

Ich tat es ihm gleich und warf sofort einen Konter ein.
"Oder aber, es würde sie daraus führen und ihr helfen mit dem Schmerz und ihrer Trauer fertig zu werden."

Ich ließ eine kurze Stille über uns ergehen und ihm ein paar Minuten zum Nachdenken, ehe ich hinzufügte,
"Jedes Mädchen, egal wie alt, braucht ihren Vater."

Ace of Hearts IIIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt