Kapitel 32.1

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"Gib mir dein Hemd."

"Wie bitte?" Lorrn zog seine Augenbrauen zusammen.

Wir waren zum Trainingsplatz der Leibgarde gegangen, die sich im Gegensatz zu dem der restlichen Armee auf der privaten Seite, hinter den Gärten befand. Der Trainingsplatz war ein Außenbereich, aber dicke Säulen, die in Rundbögen zusammenfanden, trugen ein großes Dach, das in der Mitte offen war und den Blick auf den sternenreichen Nachthimmel freigab. Nur der hintere Bereich hatte Seitenwände und erzeugte damit das Gefühl einer Halle. Als wir durch den vorderen Bogen schritten, zog sich ein wohliger Schauer über meinen Rücken. Der Anblick weckte Erinnerungen an den Trainingsplatz in Hallgar. Eine gleiche Spur des Geruchs von Schweiß, feuchter Erde und Staub lag in der Luft. Meine Füße fanden den gleichen weichen Untergrund. Und plötzlich spürte ich sie: eine längst vergessene Vorfreude, die sich ganz warm anfühlte.

"Ich mein das ernst! Oder glaubst du, ich ruiniere gleich freiwillig dieses kostbare Stück?" Mein Grinsen wurde immer breiter und ich zeigte mit beiden Händen an meinem Kleid herunter. Lorrn hatte sich inzwischen in breitem Stand aufgestellt und musterte mich immer noch zögernd.

"Ach komm, keine Angst, dein Hemd reicht mir locker über meinen Knackpo!"

Tief einatmend kniff er seine Augen zu und presste kurz seine Lippen zusammen. "Du bist unmöglich!"

Es war leicht ihn zu verunsichern. Etwas, das ich als Frau im Ring öfter zu nutzen wusste. Nicht selten arbeitete ich mit allen Tricks. Schmunzelnd beobachtete ich, wie er schließlich sein Jacket ablegte und anschließend sein Hemd aufknöpfte. Die Muskeln, die dabei langsam zum Vorschein kamen, waren ausgesprochen ansehnlich. Wenigstens würde ich heute ein bisschen was zum Anschauen haben. Ich biss mir auf die Lippen, um nicht albern über meine Gedanken zu kichern.

"Daaanke!" Ich grinste breit, als er mir das Hemd entgegen hielt. "Und jetzt dreh dich um!"
Das tat er, ohne zu zögern. Er war ganz der Gentleman und ich hatte natürlich auch nichts anderes erwartet. Schnell kickte ich meine Schuhe weg, schlüpfte aus meinem Kleid heraus und in Lorrns Hemd rein. In der Halle war es eisig, aber das machte mir nichts aus, wir würden uns sowieso bald ausreichend bewegen.

Ich schloss gerade den letzten Knopf, als Lorrn vorsichtig über seine Schulter schielte.

"Zu spät, alles schon verdeckt!" Ich zwinkerte ihm süffisant zu, doch Lorrn schien erleichtert auszuatmen.

"Gut, dann können wir ja endlich anfangen! Fünf Runden im Lauftempo durch die Halle!" Sein plötzlicher Kommandoton brachte mich zum Lachen. Die ganze Situation, Lorrns starre Haltung, es fiel mir schwer, ernst zu bleiben.

"Was, hast du gedacht, dass ich mir von dir weiter Befehle geben lasse? Lauf! Jetzt!"

"Ja, Sir!" Ich schüttelte weiter stumm-grinsend den Kopf und fing an mich zu bewegen. Laufen war sicherlich nicht das, was ich am meisten vermisste. Barfuß war der sandige Boden eiskalt. Was soll's, es gehörte dazu, um wieder fitter zu werden und ich war Lorrn dankbar, dass er tatsächlich bereit war, mir einen Anfang zu ermöglichen.

Lorrn holte zwei Kampfstöcke aus dem Waffenschrank heraus, während ich mich warm machte. Vermutlich fand er nicht, dass Schwerter sofort eine gute Idee gewesen wären. Vielleicht hatte er auch Sorge, wie gut ich den Fae Wein wegsteckte.

"Wenn du das durchziehen willst, dann gehört ab jetzt jeden Morgen für dich Laufengehen dazu. Du musst fitter werden", rief er, als ich von meiner letzten Runde auf ihn zukam.

"Ich weiß!", schnaufte ich und stützte mich mit meinen Händen auf den Oberschenkeln ab. Ich kam mir blöd vor, dass das bisschen Gerenne mir überhaupt etwas ausmachte. Ich vermied den Gedanken, woran es noch lag. Welche körperlichen Veränderungen gar nicht mal solang zurücklagen.

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