Kapitel 2

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Das Krankenhaus liegt am Ufer der Oder, in der Nähe der Breslauer Innenstadt. Ich steige am Ring aus der Straßenbahn, um mich noch ein wenig umzusehen. Es passiert nicht oft, dass ich in die Stadt komme. Der alte Stadtkern mit den hoch aufragenden Kirchtürmen und dem Rathaus mit seiner gotischen Fassade beeindruckt mich immer wieder – gerade weil alles so anders ist, als das, was ich aus meinem Heimatdorf kenne. Der von mittelalterlichen Patrizierhäusern gesäumte Marktplatz versetzt mich zurück in die Zeit, die ich aus Vaters Büchern kenne, und lässt in mir den Wunsch aufkommen, wir hätten im Geschichtsunterricht mehr gelernt als über die Eroberungen der germanischen Rasse und deren Unterwanderung durch die Juden. Die Bürger von Breslau können von Glück sagen, dass alles noch heil ist.

Auf dem Marktplatz haben die Bauern ihre bunten, markisengedeckten Stände aufgebaut. Die Menschen stehen in langen Schlangen an, um frische Tomaten und Gurken oder reife Pflaumen zu erhaschen, die zwar nicht rationiert sind, aber in der Stadt schwer erhältlich. Frau Pollack hat mir ein Fresspaket mitgegeben, darunter auch zwei Pfund von den Kirschen, die ich gepflückt habe, deshalb kann ich mir das Anstehen sparen.

Im Krankenhaus frage ich die Empfangsdame nach Emil Schmidt und werde in den rechten Flügel verwiesen, wo die genesenden Soldaten untergebracht sind, Zimmer 114. Das Krankenhaus dient jetzt als Reservelazarett für die Frontsoldaten, die sich nicht mehr im kritischen Zustand befinden und stabil genug sind, um hierher verlegt zu werden. In einem Saal, in den ich im Vorbeigehen einen Blick werfen kann, stehen die Feldbetten dicht an dicht, aber die Männer darin sind alle in saubere, weiße Verbände gewickelt. Ich weiche einer Krankenschwester aus, die in ihrem adretten Kittel und dem Häubchen, auf dem ein rotes Kreuz prangt, an mir vorbei eilt. Ein einbeiniger Mann auf Krücken humpelt den Gang entlang. Seine Augen wirken stumpf.

Als ich vor der Tür zu 114 stehe, verlässt mich der Mut. Ich weiß nicht, wie ich Onkel Emil vorfinden werde, kann mir nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, sein Augenlicht für immer verloren zu haben.

Doch das »Herein«, das auf mein Klopfen hin von drinnen ertönt, klingt nicht abweisend. Onkel Emil ist in einem Doppelzimmer untergebracht worden, ein Privileg für Offiziere. Im fensternahen Bett liegt ein grauhaariger Mann mit bleichem Gesicht; jeweils ein Arm und Bein stecken in einem Gips. Er starrt aus dem weit geöffneten Fenster und schenkt mir keine Beachtung. Auf dem anderen Bett sitzt Onkel Emil in seiner Uniform, aufrecht und frisch rasiert. Seine braunen Haare sind gestutzt und gescheitelt, genauso wie ich ihn in Erinnerung habe. Aber etwas ist anders: die breite schwarze Augenbinde, die ihm um den Kopf gewunden ist. Und auf der linken Wange leuchtet eine lange Narbe, die noch immer rot und an den Rändern hässlich gezackt ist. Sie zieht sich von unterhalb des Verbands bis zu seinen Mundwinkeln.

»Onkel Emil«, sage ich und füge vorsichtshalber hinzu: »Ich bin's, Anton.«

Er lächelt. »Anton! Schön, dich zu ...«, er verstummt, dann tastet seine Hand in der Luft vor sich und ich ergreife sie mit beiden Händen und drücke fest zu.

»Also, du willst mich hier rausholen, ja?«

Ich nicke, dann fällt mir wieder ein, dass er mich nicht sehen kann.

»Ja. Tante Martha wird sich riesig freuen, dich wiederzuhaben.«

Onkel Emils Hand findet meine Wange und bleibt darauf liegen.

»Soll ich noch irgendwas einpacken?«, frage ich und schaue mich im Krankenzimmer um.

»Das hat die Schwester schon erledigt. Ich muss mich nur noch abmelden, dann händigen sie mir meinen Krankenschein aus. Soll ja keiner sagen, ich hätte mir die Augen nur zum Spaß verbunden, um mich zu drücken.«

Ich schiele zu dem grauhaarigen Mann im anderen Bett. Obwohl er so aussieht, als würde er von uns nichts mitbekommen, traue ich mich nicht, offen zu reden. Ich will Onkel Emil fragen, ob es stimmt, was man so hört – dass sich viele Soldaten in Russland, vor allem bei den Kämpfen um Stalingrad, selbst Verletzungen zugefügt haben, nur um von der Front fortzukommen. Aber Onkel Emil kann keiner »Feigheit vorm Feinde« vorwerfen, da bin ich mir sicher.

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt