Kapitel 23

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„Du fährst nicht noch einmal da raus, Anton!"

Ich habe Mutter selten so aufgelöst erlebt. Doch als ich mich im Flurspiegel betrachte, sehe ich, dass ich über und über mit Ruß und Staub bedeckt bin. Meine Hosen sind eingerissen, weil ich auf den Trümmern gestolpert bin. Es sieht schlimmer aus, als es ist.

„Es geht mir gut", versuche ich sie zu beschwichtigen. „Das ist nur ein bisschen Ruß."

„Nein, es ist mein Ernst! Was ich mir für Sorgen gemacht habe. Ihr beide allein dort draußen und ich wusste nicht, wie es euch ergangen ist. Was hattet ihr überhaupt in der Innenstadt zu suchen?"

Gerhard muss ihr erzählt haben, wo ich gewesen bin. Er steht am Türrahmen zur Küche, Hände in den Hosentaschen, und schaut schuldbewusst drein.

„Wir ... wir wollten Essen besorgen."

„Jetzt lass den Jungen sich erst mal waschen", meint Tante Martha in versöhnlichem Tonfall. Doch auch sie sieht blass aus, als hätte sie harte Stunden hinter sich.

„Ich verstehe nicht, wieso ihr dazu in die Stadt reinfahren müsst. Das haben wir doch alles hier in der Nähe", sagt Mutter.

Ich kann ihr schlecht von Luises Onkel erzählen — das ist ein Geheimnis, dass sie mir anvertraut hat. Ich würde mir eher die Zunge abbeißen, als es zu verraten. Also starre ich nur auf den Boden.

Aus der Tür zur Stube, die einen Spalt offensteht, sehe ich die großen braunen Augen von Fritz und Max. Ich zwinkere ihnen zu, um zu zeigen, dass alles in Ordnung ist.

„Die Geschäfte hier haben nicht immer alles", sage ich ausweichend.

Mutter schaut mich prüfend an, die Hände in die Hüften gestemmt. Einen Moment hält sie meinen Blick gefangen. Es fällt mir unglaublich schwer, nicht wegzuschauen, ohne rot zu werden. Dann seufzt sie und nimmt meinen Mantel vom Haken. „Den werde ich waschen."

Sie fährt mit einer Hand in die Taschen, um alles herauszuholen, was sich noch darin befindet. In dem Moment fällt mir ein, dass ich meine Lebensmittelmarken noch nicht rausgeholt habe. Ich strecke den Arm aus, um ihr den Mantel abzunehmen. Aber zu spät.

Ihre Hand stockt in meiner rechten Innentasche. Sie zieht sie heraus und mein Herz bleibt beinahe stehen, als ich die Papierbögen sehe, die zum Vorschein kommen. Gerhard entdeckt es im gleichen Moment und wir tauschen einen verzweifelten Blick.

Ich bin so dumm! Wieso habe ich sie in meiner Manteltasche gelassen? Wieso habe ich sie nicht an einem sicheren Ort aufbewahrt?

Mutter runzelt die Stirn und zählt die Bögen in ihren Händen. Dann schaut sie mich an. „Wieso hast du hier so viele Marken? Wo hast du die her?" Ihre Stimme ist ausdruckslos und mir wird flau im Magen. Das war's. Jetzt sind wir geliefert. Wegen meiner eigenen Blödheit.

„Die haben wir ... auf Vorrat bekommen", sagt Gerhard, aber selbst er klingt unsicher.

„Auf Vorrat? Das soll ich glauben?", sagt sie und schaut wieder mich an. „Anton?"

Mist! Ich wechsle einen Blick mit Gerhard. Es ist schwer genug, Mutter etwas zu verheimlichen. Aber sie geradeheraus anzulügen?

„Wir haben sie ..."

„Ihr habt sie doch nicht etwa ..."

„... vom Schwarzmarkt", beende ich lahm und bemühe mich, reumütig auszusehen. „Wir haben sie eingetauscht."

Zwei tiefe, waagerechte Falten furchen ihre Stirn. „Warum? Habt ihr vom Amt keine Marken bekommen?"

Ich hole tief Luft und krächze: „Wir waren nie dort."

„Ach herrje", höre ich Tante Martha murmeln.

Mutter schaut mich entgeistert an. Ich habe keine Wahl. Die Katze ist aus dem Sack. Also erkläre ich ihr alles.

Mutter Blick wird hart. „Ihr habt euch nicht gemeldet? Ja, seid ihr denn des Wahnsinns?" Sie spricht leise.

„Warum bist du denn so böse, Mutti?", flüstert Wiebke verstört.

Mutter streicht sich mit einer Hand eine der silbergrauen Strähnen zurück, die ihr aus dem Dutt gerutscht ist. „Warum ich böse bin? Weil Anton sich selbst und uns alle in große Schwierigkeiten bringen kann, wenn er illegal bei uns wohnt." Sie schaut mich dabei direkt an. „Und das weiß er auch."

„Ich wollte doch nur helfen. Ihr habt schon so viele Mäuler zu stopfen ... und dann kommen auch noch Gerhard und ich dazu", erkläre ich schwach.

„Das lass mal unsere Sorge sein", sagt sie. „Ich werde schon einen Weg finden, meine Kinder zu ernähren. Mit legalen Mitteln ..."

Sie seufzt tief. „Morgen früh gehen wir alle direkt zum Amt und melden euch beide an." Ihre Stimme duldet keinen Widerspruch. „Und diese Marken hier — kommen in den Ofen."

Ich will etwas einwenden, doch die Worte bleiben mir im Halse stecken. Ihre grauen Augen blitzen mich an. Sie ist stinksauer, was ihre ruhige Stimme kaum verrät. Ich schaue zu Boden und denke an Vaters Uhr. Alles umsonst.

* * *

Mutters Augen sind rot. Ich sehe es, obwohl sie sich rasch wegdreht, als ich mit Gerhard die Küche betrete. Auch Tante Marthas Blick wirkt verschleiert. Sie wischt sich die Hände an der Schürze ab, die vom Abspülen nass sind, und tauscht einen bedeutungsvollen Blick mit Mutter.

Ich bleibe wie angewurzelt stehen, den Kohlensack über der Schulter. Gerhard schüttet seine Kohlen in den Ofenkasten, offensichtlich immun gegenüber der dicken Luft, die im Raum herrscht.

Wir haben nur die Hälfte der uns zustehenden Kohlenration erhalten — ein klägliches Häufchen. Es ist zwar schon Anfang März, aber der Frühling will dieses Jahr nicht kommen und es ist immer noch sehr kalt.

Mutter schält am Tisch Kartoffeln; zu ihren Füßen spielen Lieschen und Erich mit Bauklötzen. Gerade wirft Erich den gebauten Turm prustend wieder um, sodass die Holzklötze über den Boden klackern.

„Ach Erich!", sagt Lieschen mit einem altklugen Kopfschütteln. „Jetzt muss ich noch mal von vorn anfangen."

„Ist irgendetwas?", frage ich und stelle den Kohlensack ab. Gedanken an meinen Bruder Helmut schwirren mir durch den Kopf.

Mutter deutet mit der Hand, die das Messer hält, auf zwei Postkarten, die vor ihr auf dem Tisch liegen. „Die sind heute für dich und Gerhard gekommen."

Gerhard klopft sich die Hände an den Hosen ab und tritt zum Tisch hin, um die Karten aufzuheben. Ich beobachte sein Gesicht, als er einen kurzen Blick darauf wirft. Es ist, als würde das Blut von einer Sekunde auf die andere aus seinen Wangen weichen. Zögernd reicht er mir eine der Karten. Sie trägt den Stempel des Wehrmeldeamtes des Bezirks Leipzig und das Symbol des Reichsadlers über dem Hakenkreuz. Darunter steht mein Name und die Adresse von Onkel Emil, die wir vor ein paar Wochen angemeldet haben. Ich überfliege den kurzen, maschinengedruckten Text.

Sehr geehrter Herr Köhler,

Sie haben sich am Samstag, den 10. März 1945 um 9 Uhr in der Kaserne in Leipzig-Gohlis einzufinden zwecks Tauglichkeitsprüfung für den Kriegseinsatz. Ein Schild wird Sie auf den genauen Treffpunkt hinweisen. Dort wird Ihnen ggf. der Wehrpass ausgestellt und Sie werden über den Ort Ihrer Ausbildung informiert, die am Sonntag, den 11. März beginnen wird. Ausreichende Bekleidung, Waschzeug, diese Karte und der Pass sind mitzubringen. Für Ihre Verpflegung und Unterkunft sorgt ab dem genannten Zeitpunkt die deutsche Wehrmacht.

Ich blicke in Gerhards Gesicht und sehe dort das Spiegelbild meiner eigenen Empfindungen. Da ist es also. Früher als erwartet. Mein sechzehnter Geburtstag ist doch erst am 17. März. Trotzdem sollen wir schon Ende der Woche gemustert werden. In vier Tagen.

Mutter schüttelt betrübt den Kopf. Ich verkneife mir zu sagen, dass das nicht passiert wäre, wenn wir uns nicht gemeldet hätten. Das bringt jetzt auch nichts mehr und bestimmt macht sich Mutter deswegen die meisten Vorwürfe.

Ich lege die Postkarte zurück auf den Tisch und hocke mich neben Lieschen und Erich auf den Boden. Erich kommt sofort angekrabbelt und zeigt mir stolz den wieder im Aufbau befindlichen Turm. Ich ziehe ihn heran und vergrabe kurz mein Gesicht in seinem flauschigen braunen Haar. Jetzt muss ich meine Familie schon wieder im Stich lassen.


Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt