Kapitel 3

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Tante Martha empfängt ihren Mann unter Tränen und Küssen. Die ganze Familie ist schon wach, als wir um sechs Uhr früh das Haus der Schmidts erreichen. Wenn meine Tante und Vettern über die Augenbinde schockiert sind, lassen sie sich nichts anmerken.

Tante Martha tischt uns allen Kuchen auf, für den sie extra Zucker- und Mehlmarken angespart haben muss. Jetzt sitzen wir in der geräumigen Stube, Onkel Emil umringt von seinen Söhnen und mit der kleinen Mathilde auf dem Schoß, und plaudern über alles Mögliche, bloß nicht über den Krieg und Onkel Emils Verletzung.

Es klingelt an der Haustür. Ich springe auf, damit die Familie in Ruhe weiter beisammensitzen kann. Wer besucht uns so früh am Morgen? Ich öffne die Tür ... und eine Armee von Schmetterlingen flattert in meinem Bauch auf.

Da steht Luise.

»Oh mein Gott, Anton? Du bist es wirklich!«

Mir versagt die Stimme und ich hebe nur kläglich meine Hand, lasse sie aber sofort wieder sinken, weil ich sehe, dass Luise mit beiden Händen den Henkel eines Weidenkorbs umklammert hält. Wie lange wir da stehen und uns anstarren, weiß ich nicht. Ich habe ganz vergessen, wie hell ihre Haare sind, wie reife Weizenfelder, die in der Sonne leuchten.

»Hast du Herrn Schmidt nach Hause gebracht?«, fragt sie schließlich.

Ich nicke.

»Also ... darf ich reinkommen?« Sie hält ihren Korb hoch, aus dem ein Flaschenhals ragt.

»Äh, ja, klar«, krächze ich und trete einen Schritt zur Seite. In meiner Eile, sie durchzulassen, stoße ich mit der rechten Schulter unsanft an die Tür, die mit einem lauten Krachen gegen die Wand fliegt. Wir zucken beide vor Schreck zusammen. Dabei treffen sich unsere Augen und wir müssen lachen, sogar ich. Gekonnt, Anton, gekonnt, würde mein bester Kumpel Gerhard sagen!

Luise schiebt sich vorsichtig seitlich an mir vorbei, wobei sie den Korb schützend vor ihren Körper hält, als wäre ich ein Wachhund, der jeden Augenblick die Zähne fletschen und sich auf sie stürzen könnte. Ich folge ihr zurück in die Wohnstube.

»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagt sie. »Ich wollte nur eine Kleinigkeit für Sie vorbeibringen, Herr Schmidt, als Willkommensgruß von Mutti und uns allen.«

Tante Martha nimmt den Korb lächelnd entgegen und zieht eine Flasche Cognac hervor, die in einem Bett aus dunkelblauen, saftigen Pflaumen gelegen hat.

»Vielen Dank, Luise!«, sagt Onkel Emil ernst. »Grüß deine Mutter herzlich. Ich komme bei Gelegenheit zu euch herüber, um mich persönlich zu bedanken.«

Luise ergreift Onkel Emils Hand. »Herr Schmidt, ich wollte Ihnen sagen, wie sehr ich Ihren Einsatz bewundere. Sie sind ein echter deutscher Held. Wenn wir nicht Soldaten und Offiziere wie Sie und meinen Vati hätten, die bereit sind, solche Opfer zu bringen ...«

Im Raum ist es ganz still geworden. Auch Luise stockt, vielleicht hat sie die veränderte Stimmung bemerkt. Onkel Emils Gesichtsausdruck wirkt unbeweglich wie eine Maske.

»Das sind aber wirklich eine ganze Menge Pflaumen«, sagt Tante Martha in die Stille hinein. »Wenn ich das gewusst hätte, ich hätt' einen Pflaumenkuchen gebacken ...« Sie rauscht in die Küche.

Luise wendet ihren Kopf zu mir, aber ich blicke auf meine Füße.

»Hast du etwas von deinem Vater gehört?«, fragt Onkel Emil sie.

»Oh, ja! Wir erhalten fast täglich Feldpost. Er liegt zurzeit noch im Lazarett in Lemberg, hinter den ukrainischen Linien ... zur Rekonvaleszenz.«

»Schwere Verwundung?«

»Seine Arme und Beine wurden von Granatsplittern getroffen. Die Splitter wandern noch, aber er sagt, es verheilt gut. Vielleicht bekommt er bald Heimaturlaub. Und sobald sein Bein dann voll belastungsfähig ist, wird er sicher wieder eingesetzt. Werden Sie auch wieder an die Front zurückkehren?«

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt