Es nimmt kein Ende. Immer wieder schließen wir uns anderen versprengten Einheiten an. Wir marschieren, bis unsere Füße wundgelaufen sind, rasten, reinigen die Gewehre ... immer wieder die Waffen reinigen ... das ist wichtig. Dann kommt wieder ein Tieffliegerangriff und wir werden in alle Himmelsrichtungen versprengt. Unser Tross geht verloren, weil wir über unbefestigtes Gelände flüchten, über Felder und durch Wälder, während die Fahrzeuge auf der Strecke bleiben, inklusive der Verpflegung. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als in verlassenen Häusern und Fabriken nach Nahrung zu suchen, wie Plünderer. Plünderer in unserem eigenen Land.
Wir sind immer hungrig und immer müde. So müde. Manchmal schlafe ich beinahe im Marschieren ein. Es sind diese kleinen Momente, in denen mein Kopf nach oben schnellt und ich merke, dass sich meine Beine noch im Marschschritt bewegen, wie ein Automat. Die Nachtruhe ist meist kurz und von Alarm unterbrochen und oft marschieren wir auch die Nächte hindurch.
Ich bin wie abgestumpft. Nur noch das eine Ziel zählt — von einem Tag zum anderen zu überleben.
Gerhard ist genauso teilnahmslos geworden wie ich. Seine Augen, früher dunkel und glänzend, sind matt und stumpf. Es gibt keinen Ausweg. Aber keiner redet darüber, denn ändern können wir unser Schicksal sowieso nicht.
In manchen Ruhepausen dringen Gerüchte an unser Ohr. Der russische Großangriff soll erfolgt sein. Von Süden und Osten stößt die Rote Armee nun auf Berlin vor und wir sollen bei der Verteidigung der Reichshauptstadt helfen. Wie wir das machen sollen — ohne Panzer, ohne nennenswerte Artillerie, mit Handfeuerwaffen und kaum genügend Munition —, das verrät uns keiner.
Ein weiterer langer Marsch liegt hinter uns. Unser Zug schleppt sich in langer Reihe über die Straße, vor mir wippende Helme und schlurfende Füße. Dann macht die Nachricht von einer Rast die Runde. Wenige Kilometer vor uns liegt ein Dorf; dort gibt es ein Gasthaus, in dem wir bewirtet werden sollen. Ich kann bereits die rotgedeckten Schindeldächer in der Ferne erkennen.
Gerhard schnauft neben mir. „Ist das eine Fata Morgana oder kannst du auch schon die Gulaschsuppe riechen?", fragt er.
„Wunschtraum. Wir laufen mit dem Wind."
Gerhard seufzt. „Ist mir eigentlich egal, was die für uns haben. Ich könnte alles essen. Brot und Käse. Oder eine Knackwurst. So eine richtig fette ..."
Wenn ich nicht so durstig wäre, würde mir auch das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Die Straße schlängelt sich einen sanften Hügel hinauf.
„Bis dahin und nicht weiter", keucht Gerhard.
„Ihr seid vielleicht Weicheier." Wilhelm muss wieder mal seinen Senf dazugeben.
„Du kannst ja von mir aus noch weiterlaufen. Direkt bis nach Berlin", sagt Gerhard gereizt. Das macht der Hunger.
Als wir den Hügelkamm passieren, erstreckt sich vor meinem Auge endlich die Ortschaft mit ihren einladenden Häusern — eine kleine Ansammlung von Gehöften, mit nur einer Hauptstraße. Rechter Hand liegt eine große Koppel, auf der bereits die Pferde der Offiziere weiden. Die sind natürlich vor uns hier eingetroffen, mit ihren Autos und Pferden und dem ganzen Tross.
Der Anfang unseres Zuges hat bereits die Ausläufer des Dorfes erreicht und verstreut sich zwischen den Häusern. Soldaten nehmen ihre Helme ab und lassen sich ins Gras am Wegrand fallen, um die Füße kurz auszuruhen. Die meisten aber strömen direkt auf eins der Häuser am Straßenrand zu, als würde es dort etwas umsonst geben. Essen — wird mir klar. Mein Schritt beschleunigt sich automatisch. Jetzt glaube ich auch schon, die Suppe zu riechen, von der Gerhard gesprochen hat.
„Verdammt, wir sind die letzten", mault Gerhard, als wir die lange Schlange sehen, die sich bereits jetzt vor dem Gasthof aufbaut.
„Da stehen wir noch bis morgen an", sage ich. „Komm ... lassen wir die anderen vor. Es bringt ja nichts, sich dort die Beine in den Bauch zu stehen."
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Am Ende dieses Jahres
Teen FictionMit 16 in den Krieg. Schlesien 1945: Uhrmacherlehrling Anton Köhler würde lieber eine Geige in der Hand halten statt eine Waffe. Doch als um Neujahr 1945 die Rote Armee seinem Heimatort immer näher rückt, wird er zusammen mit seinen Altersgenossen a...