Wir sind nicht die Einzigen, die diese Idee haben. Viele scheinen sich zu denken — besser in die Fluten wagen, als in russische Gefangenschaft zu gehen.
Während ich meine Ausrüstung ablege, beobachte ich, wohin die anderen Soldaten treiben, wo sie von der Strömung Probleme bekommen, wo sich vielleicht gefährliche Wirbel unter der Wasseroberfläche verstecken. Wann immer ich einen Kopf nicht mehr auftauchen sehe, rutscht mein Herz ein wenig tiefer.
Ich überlege, wie ich die Uhr und meinen Ausweis vor dem Wasser beschützen kann und wickele sie dann in meine Zeltplane. Die Zeltplane stecke ich in den sonst leeren Tornister, den ich auf den Rücken setze. Während ich die Trageriemen fest anziehe, kommt mir eine Idee. Ich krame in der liegengelassenen Ausrüstung nach einem Seil. Ein festes Hanfseil sollte es tun. Das eine Ende werfe ich Wilhelm zu, das andere befestige ich an meinem Tornister.
„Was soll ich damit?", fragt er.
„Mach es irgendwo fest. So verlieren wir uns nicht. Und wenn einer weggetrieben wird, kann der andere ihm vielleicht helfen."
Wilhelm zögert eine Weile, das Seil in der Hand. „Dann werden wir mit runtergezogen, wenn der eine untergeht."
Ich funkele ihn an. „Du hast doch dein Messer dabei." Feigling!
Wilhelm gibt nach und bindet das Seil an seinem Gürtel fest. Es ist etwa fünf Meter lang. Genug, damit wir uns nicht in die Quere kommen. Dann hole ich noch einmal tief Luft und drehe mich zur Elbe um.
Über die sanft abfallenden Flussauen nähere ich mich langsam dem Wasser. Ich trage noch immer meine Stiefel, Uniform und Mantel. Es fühlt sich ganz und gar nicht richtig an, in voller Montur schwimmen zu gehen. Aber ich bin mir sicher, dass unsere Chancen so besser stehen.
Das Gras ist matschig und quietscht unter meinen Tritten. In kleinen Mulden haben sich Pfützen schmutzigen Wassers gesammelt, die einen abgestandenen Geruch verbreiten. Als ich die ersten gluckernden Ausläufer des Flusses erreiche, drehe ich mich noch einmal nach Wilhelm um. Sein Gesicht ist kreidebleich, aber seine Miene zeigt die gleiche grimmige Entschlossenheit, die auch ich empfinde und die meine Angst überlagert.
Ich wate ins Wasser. Die undurchsichtigen Fluten, in denen abgerissenes Gras und Äste schwimmen, umschwappen meine Knöchel. Dann sauge ich tief Luft ein, als das kalte Wasser in meine Stiefel dringt. Es geht rasch tiefer; hinter mir höre ich Wilhelms patschende Tritte. Der Zug der Strömung ist schon hier am Ufer kräftig zu spüren.
Los jetzt! Je länger ich warte, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass mich doch noch der Mut verlässt. Aber das ferne Donnern der Artillerie weiter hinten im Lager verstärkt meinen Entschluss noch einmal. Das Wasser umspült meine Knie, dann meine Hüften. Und schließlich halte ich die Luft an und werfe mich bäuchlings in die Fluten. Der dicke, wollene Mantelstoff dämpft den Schock des kalten Wassers ein wenig.
Sobald ich den Uferbereich hinter mir gelassen habe, in dem man noch stehen kann, spüre ich den Sog der Strömung, die mich flussabwärts zieht. Ich lasse mich mittragen und konzentriere mich nur darauf, den Kopf über Wasser zu halten und mit einigen kräftigen Schwimmzügen nachzuhelfen. Das andere Ufer wirkt meilenweit entfernt. Ich höre nur das Rauschen des Wasser und Wilhelms keuchenden Atem hinter oder neben mir. Ab und zu spüre ich einen Zug am Seil, wenn wir zu weit auseinanderdriften.
Etwas greift nach meinen Füßen. So fest, als hielte mich eine unsichtbare Hand umklammert. Im nächsten Augenblick schwappt das Wasser über meinem Kopf zusammen. Ich hatte gerade noch Zeit, meine Lungen mit Luft zu füllen. Wild paddele ich mit den Beinen, um mich loszureißen, und versuche, die aufkommende Panik niederzudrücken. Um mich herum ist es dunkel und ich habe keine Ahnung mehr, wo oben und unten ist.
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Am Ende dieses Jahres
Teen FictionMit 16 in den Krieg. Schlesien 1945: Uhrmacherlehrling Anton Köhler würde lieber eine Geige in der Hand halten statt eine Waffe. Doch als um Neujahr 1945 die Rote Armee seinem Heimatort immer näher rückt, wird er zusammen mit seinen Altersgenossen a...