Kapitel 21

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Luise tritt aus dem großen, altehrwürdigen Schulgebäude. Ihre schlanken Waden unter dem knielangen BDM-Rock stecken in dicken dunklen Wollstrümpfen. Sie trägt einen Mantel, Schal und Mütze und hat sich bei einem anderen Mädchen eingehakt. Ich löse mich von dem Stamm der Kastanie, an der ich lehne, und trete offen auf sie zu, als sie das Schultor durchquert. Es soll ja nicht so aussehen, als würde ich vor der Tür herumlungern, um sie heimlich zu beobachten.

Luise entdeckt mich und ihre Augen blitzen kurz auf, oder bilde ich mir das nur ein? Das Mädchen neben ihr schaut mich neugierig an.

„Wartet der auf dich?" Ich kann sie bis hierher flüstern hören.

„Ja. Das ist ... ein Vetter, aus Schlesien."

Das Mädchen macht große Augen. „Ach, dein Vetter. Magst du ihn mir nicht mal vorstellen?"

Luise lässt ihren Arm los und gibt ihr einen spielerischen Schubser. „Später vielleicht. Ich muss jetzt los. Bis morgen! Sag Irmi einen schönen Gruß von mir." Damit lässt sie ihre Freundin stehen und kommt auf mich zu.

„Dein Vetter?", frage ich mit hochgezogenen Brauen.

Luise hat den Anmut, zu erröten. „Ich wollte nur nicht, dass sie denkt ... die Mädels hier sind doch alle Tratschtanten."

„Schon gut." Es tut mir schon leid, dass ich überhaupt etwas dazu gesagt habe.

„Bist du bereit?", fragt sie und klatscht in die Hände.

„Ja", erwidere ich.

„Wo ist denn Gerhard?"

„Er ... ihm geht's nicht so gut heute." Von wegen! Er hat mich im Stich gelassen. Toller Freund! ‚Geh heut ruhig mal allein', hat er zu mir gesagt. ‚Ich mag mich nicht immer dazwischendrängen.' Als ob er sich irgendwo dazwischen drängen könnte.

„Oh", sagt sie und ich versuche zu erkennen, ob Luise enttäuscht klingt oder erfreut.

„Wie war der Dienst?", frage ich, als ich mich an Gerhards Warnung erinnere, ich solle endlich mal den Mund aufkriegen. ‚Stell einfach ein paar Fragen, Junge', hat er gesagt. ‚Mädchen mögen es, wenn sie denken, dass du dich für sie interessierst.' — ‚Das tue ich doch auch!' — ‚Ja klar.'

„Wie immer", sagt Luise, während wir in die Heidestraße einbiegen. „Ich habe mich gut mit einem der Patienten angefreundet. Joachim heißt er und war früher Opernsänger, aber das Furchtbare ist, dass er nie wieder wird sprechen können, weil ihm der Kehlkopf verbrannt ist."

Luise hatte uns schon während unserer ersten Fahrt in die Stadt erzählt, dass ihr Gymnasium zum Lazarett umfunktioniert worden ist und alle Oberschülerinnen zum Lazaretthilfsdienst eingeteilt wurden.

„Und wie redet ihr miteinander?"

„Wir schreiben uns Notizen. Es macht ihn so froh, mich Klavier spielen zu hören. Sie haben das Klavier aus dem Musikzimmer raus in den Flur geschoben und ich darf jeden Tag eine halbe Stunde darauf spielen — auf Bitte aller Patienten."

Ich wünsche mir auf einmal auch, Verwundeter in diesem Lazarett zu sein und von Luise gepflegt zu werden.

„Daher kanntest du auch diesen Martin?"

Sie nickt. „Aber wir sehen uns eigentlich nur, um zu handeln", fügt sie hinzu.

Dann steigen wir in die Straßenbahn, die gerade einfährt.

„Onkel Philip hat mir für heute ein Dutzend Eier versprochen — die könnt ihr haben", sagt sie. Wir sind schon mehrmals mit ihr zu ihrem Onkel gefahren, der ein Lebensmittelgeschäft im Leipziger Westen besitzt. Dort bekommen wir für die illegalen Marken Essen, ohne die Angst, dass man uns auf die Schliche kommt.

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt