Kapitel 22

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Um uns herum explodiert die Welt. Es hört sich an, als würden die Bomben direkt neben uns einschlagen. Eine Frau rennt vor uns her und zieht zwei kleine Kinder mit sich. Eines stolpert, bleibt liegen und schreit. Die Mutter will es hochreißen, doch da drängen schon die anderen Menschen nach und drohen es zu überrennen.

Ich lasse Luises Hand los und hebe den kleinen Jungen auf, der sich die Seele aus dem Leib brüllt. Ich drücke ihn der Mutter in die Arme, ohne darauf zu warten, ob sie sich bedankt, und schaue mich wieder nach Luise um. Sie ist im Menschengewühl verschwunden.

Suchend drängele ich mich nach vorn. Der Himmel verdunkelt sich, als sich das Flugzeuggeschwader vor die Sonne schiebt. Sprengbomben platzen. Erste Flammen knistern und Staub und Rauch hängt wie dichter Nebel in der Luft. Dazwischen schreiende Menschen, die durch die Luft gewirbelt oder zerfetzt werden.

„Luise?", rufe ich, aber es ist hoffnungslos, meine Stimme trägt nicht über all den Lärm. Trotzdem renne ich schreiend weiter.

Irgendwo staut es sich — die Menschen scheinen anzustehen und mir wird klar, dass dies die Schlange sein muss, die zum Eingang des Tiefbunkers führt. Verdammt, da ist kein Durchkommen.

Plötzlich stößt jemand frontal mit mir zusammen. Ich pralle zurück, erkenne aber im nächsten Moment Luises Gesicht.

„Anton", eher lese ich das Wort von ihren Lippen ab, als dass ich es hören kann. Ihr Blick ist wild und angsterfüllt. Gott sei Dank! Ich will sie schon wieder an der Hand fassen und weiterziehen, da kracht es direkt neben uns. Eine Bombe ist im Bahnhof eingeschlagen, Steine und Trümmerstücke regnen herab. Luise drückt sich dicht an mich und hält die Arme über ihren Kopf.

Wir müssen unbedingt in den Bunker. Schlange oder nicht. Ich packe Luise am Arm und ziehe sie aus der wartenden Menschenmenge heraus, schlängele mich durch die nach vorn drängenden Körper, die alle das gleiche Ziel haben. Keiner bemerkt uns, alle sind von ihrer eigenen Furcht abgelenkt und es gelingt uns, seitlich an der Warteschlage vorbei bis kurz vor den Eingang zu kommen.

Dutzende Menschen versuchen gleichzeitig, sich die schmale Treppe hinunter und durch die enge Tür zu quetschen, die in den Tiefbunker führt. Der Luftschutzwart ist hoffnungslos überfordert.

Es kracht ein Schuss. Dann noch einer. Die Leute, die ganz vorne stehen, schrecken zurück.

„Ordnung wahren!", kreischt der kräftige Mann mit dem Stahlhelm. Er hält eine Pistole hoch in die Luft erhoben. „Nur zwei Personen gleichzeitig!"

Einer der wartenden Männer hebt zornig die Faust und fängt eine Diskussion an. Ich nutze die zeitweilige Verwirrung, die vor dem Eingang ein wenig Luft verschafft, und schlängele mich mit Luise im Schlepptau die Treppe hinunter. Wir quetschen uns an den wartenden Menschen vorbei bis direkt vor die Tür. Der Luftschutzwart lässt uns durch.

Dann sind wir drin. Geschafft. Die Leute drängen sofort von hinten nach, stoßen uns in den Rücken und schieben uns weiter in den großen Auffangraum, der schon jetzt zum Bersten gefüllt scheint — doch es öffnet sich immer wieder eine Lücke. Ich achte darauf, Luises Hand nicht loszulassen.

Die Wände erzittern im Rhythmus der draußen einschlagenden Bomben, Staub rieselt von der Decke. Plötzlich geht das Licht aus und unter unseren Füßen bebt die Erde. Der Luftschutzwart schließt hastig die Bunkertüren. Es ist stockfinster, das Krachen und Dröhnen von draußen nur noch gedämpft wahrnehmbar, und doch habe ich bei jedem Einschlag das Gefühl, die Decke würde uns gleich auf den Kopf fallen.

Ich spüre Luises Hand in meiner, sie ist schweißfeucht, oder ist das meine eigene? Es ist warm hier drin, und die unterschiedlichsten Gerüche vermischen sich. Es riecht nach Schweiß und anderen Körperausdünstungen, auch nach Urin. Es ist der Geruch von Angst.

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt