Kapitel 19

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Wie anders sieht es diesmal im Stadtviertel meiner Tante aus! Überall Bombenschäden: Fenster mit zersplitterten Glasscheiben, die zum Teil mit Pappe verklebt wurden, ausgebrannte Dachstühle. Abgedeckte Ziegel und Geröllbrocken liegen auf der Straße. Gerhard und ich umrunden einen tiefen Krater mitten auf dem Gehweg. Die Angriffe müssen sich in den letzten Monaten verstärkt haben.

Je näher ich der Straße komme, in der Tante Martha und Onkel Emil wohnen — und Luise —, desto stärker klopft mein Herz und ich habe ein flaues Gefühl im Magen.

Lass Mutter da sein, bitte, lass Mutter da sein, und alle meine Geschwister, bete ich im Stillen, obwohl ich gar nicht gläubig bin.

Was, wenn ihr Haus genauso aussieht, wie das, an dem wir gerade vorbeikommen? Mit abgerissener Vorderfront, sodass man auf die ausgebrannten Mauern im Inneren schauen kann. Wie bei einer überdimensionierten Puppenstube. Die Zimmer sind unheimlich leer, abgesehen von zurückgebliebenem Unrat, verkohlten Teppichen, Fetzen von Vorhängen, Glassplittern ... Alles, was noch brauchbar war, haben die ehemaligen Bewohner wahrscheinlich bereits ausgeräumt und das Holz der zerbrochenen Möbel zum Feuern benutzt.

Gerhard scheint meine Nervosität zu verstehen — er redet nicht viel und nickt mir ab und an aufmunternd zu. Da bereits der Mond am Himmel aufsteigt und die ersten Sterne blinken, laufe ich schneller. Nach Einbruch der Dunkelheit darf sich niemand mehr auf den Straßen aufhalten.

Wir kommen an einen Park, durch den es eine Abkürzung gibt. Luise hat sie mir einmal gezeigt. Es ist eher ein Trampelpfad, der unter alten Eichen und Kastanien hindurchführt, vorbei an einem verlassenen Spielplatz mit rostigem Klettergerüst und einer quietschenden Schaukel. Ein kalter Wind pfeift durch die kahlen Äste und ich ziehe meinen Mantelkragen enger und stecke die Hände in die Taschen.

Vor uns läuft jemand, schon seit einer ganzen Weile, eine dunkle Gestalt, aber relativ klein und zierlich. Ein Mädchen wohl, dem Rock nach zu urteilen, der unter dem langen, dicken Mantel hervorschaut. Sie trägt einen großen Korb unter dem Arm. Ich beschleunige meine Schritte, will sie einholen, um zu sehen, wer es ist. Mein Herz pocht.

Das Mädchen wirft einen Blick über ihre Schulter, sieht uns, wie wir ihr im Halbdunkel in diesem einsamen Park nachlaufen und eilt noch schneller. Dabei muss sie gegen den Wind ankämpfen, genau wie wir. Ich will ihr zurufen, doch da stolpert sie über irgendetwas. Sie verliert das Gleichgewicht und schlägt mit Händen und Knien auf dem Boden auf. Der Korb, den sie getragen hat, rollt ein paar Schritte weiter.

In dem Moment, den sie braucht, um sich zu fassen, habe ich sie auch schon eingeholt. Ich stelle mich vor sie und halte ihr meine Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen.

„Alles in Ordnung?" rufe ich ihr durch das Pfeifen des Windes zu.

Sie blickt auf meine Hand; dann wandert ihr Blick langsam an meinem Arm entlang zu meinem Gesicht. Mein Herz macht einen kleinen Satz. Unter der Mütze lugen ihre Zöpfe hervor, die im Dämmerlicht hell, fast silbern schimmern. Ihre Lippen öffnen sich ein klein wenig und ihre Augen weiten sich.

Ich halte ihr die zweite Hand hin und sie greift danach, ohne ihren Blick von meinem zu lassen. Sie starrt mich an, wie man einen Geist anstarren würde, während sie sich von mir auf die Beine ziehen lässt, beinahe willenlos. Dann stehen wir uns gegenüber. Ihre Augen glänzen dunkel und ihre Wimpern werfen lange Schatten über ihre Wangen. Einzelne Haarsträhnen, die der Wind aus ihren Zöpfen gezerrt hat, flattern wild um ihr Gesicht. Ich halte immer noch ihre Hände.

„Anton?", flüstert sie. Und dann lauter: „Oh mein Gott! Ich glaub es nicht!"

Ich bringe kein Wort hervor, die Kehle ist mir wie zugeschnürt. Luise sieht einen Moment lang so aus, als würde sie mir um den Hals fallen wollen, doch dann blinzelt sie und drückt nur meine Hände fester.

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt