Kapitel 17

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Für Gerhard ist jeder Schritt eine offensichtliche Qual, trotzdem kämpft er sich verbissen vorwärts. Ich bestimme oft eine Ruhepause, aber so kommen wir nur sehr langsam voran. Es ist windstill zwischen den Bäumen; das nimmt der Kälte etwas von ihrer Bissigkeit. Ab und zu rieselt Schnee von dicht bepackten Ästen auf unsere Köpfe, wenn wir dicht daran vorbeistreifen. In unserer Kindheit waren wir so oft im Wald unterwegs, dass wir keine Mühe haben, uns zurechtzufinden. Trotzdem will ich nicht die Nacht hier verbringen. Wir müssen zum Abend irgendeine Unterkunft finden.

Schließlich endet der Wald und verschneite Felder breiten sich vor unserem Auge aus, unterbrochen von kleinen Baumgrüppchen.

„Was sagt dein innerer Kompass?", fragt Gerhard.

„Wir sind auf dem richtigen Weg." Ich klinge zuversichtlicher, als ich bin. Die Sonne hat ihren Zenit längst überschritten und sinkt bereits wieder dem westlichen Horizont entgegen. Mein Magen protestiert. Seit der Schokolade am Morgen hat er nichts bekommen und zieht sich nun schmerzhaft um die Leere herum zusammen.

„Ich glaube, da hinten ist ein Dorf." Ich deute zum Horizont, wo hinter den Silhouetten der Bäume einige Rauchfähnchen vor dem dunkelblauen Himmel in die Luft steigen.

„Ob die uns was zu Essen geben?", fragt Gerhard.

„Wenn wir Glück haben, lässt uns irgendein netter Bauer vielleicht sogar in der Scheune übernachten."

Gerhard läuft jetzt mit neuer Energie. Die Hoffnung auf eine kleine Mahlzeit und einen einigermaßen warmen, trockenen Platz zum Schlafen treibt uns an. Wir laufen querfeldein durch kniehohen Schnee, dessen oberste Kruste schon festgefroren ist, sodass wir bei jedem Schritt mit einem Krachen durchbrechen und einsinken. Ich gehe voran, damit Gerhard in meinen Fußstapfen folgen kann.

Nachdem wir einen weiteren Waldstrich durchquert haben, der zwei Felder voneinander trennt, kommt das Dorf in Sicht — eher eine Ansammlung von ein paar einzelnen Gehöften. Menschen sind keine zu sehen. Da es mittlerweile dämmert und ein rötlicher Schein den Himmel überzieht, nehme ich an, dass die meisten sich bereits in ihre Häuser zurückgezogen haben. Denn bei Einbruch der Dunkelheit kommen die Tiefflieger.

Wir schauen uns an. Aus dem Bauernhaus, das uns am nächsten steht, zieht einladender Rauch aus dem Schornstein über das verschneite Dach. Es ist ein kleines Gehöft mit Haupthaus und einem rechtwinklig anschließenden Stall.

Gerhard will schon darauf zustiefeln, aber ich halte ihn auf.

„Warte. Wir können doch nicht in unseren Uniformen dort aufkreuzen. Nachher verpfeift uns jemand. Oder sie lassen uns gar nicht rein, aus Angst."

Gerhard zieht die Stirn in Falten. Zum Glück haben wir im Brotbeutel unsere Zivilkleidung mitgeschleppt. Es ist empfindlich kalt, aber es hilft alles nichts. So schnell wir können, schlüpfen wir aus der Uniform und in unsere alten Klamotten. Ich fühle mich sofort ganz anders, in meiner braunen Hose aus festem Wollstoff und dem selbstgestrickten Pullover von Mutter. Dann streife ich rasch den Mantel wieder über, fühle in der Brusttasche nach der Taschenuhr und den Fotos und stopfe die Uniform in den Brotbeutel.

„Den sollten wir auch hier lassen. Irgendwo verstecken."

„Hängen wir es an einen Ast, dann kann es kein Tier durchwühlen."

Wir suchen uns eine hohe Buche und hängen die Tornister und Brotbeutel, so hoch wir kommen, an einen Ast. So verwandelt fühle ich mich wieder wie ein normaler Mensch. Trotzdem klopft mir das Herz, als wir uns dem Hof nähern.

Die Verdunkelungsrollos sind heruntergezogen und versperren uns die Sicht ins Innere. Aber durch die Ritzen von einigen Fenstern dringt ein warmer Lichtschein nach draußen.

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt