Ich lecke mir über die Lippen und trete von einem Fuß auf den anderen, während ich darauf warte, dass mir jemand die Tür öffnet. Meine Nerven zittern wie überspannte Saiten. Wird sie sich freuen, mich wiederzusehen? Ist sie überhaupt zu Hause? Vielleicht hätte ich mich vorher ankündigen sollen. Aber ich weiß gar nicht, ob Luises Großeltern überhaupt ein Telefon haben.
Die Tür geht auf und mein Herz setzt einen Schlag aus.
Luise starrt mich an wie eine Erscheinung, eine Hand noch immer an der Türklinke. Sie wirkt sprachlos. Das gibt mir etwas Zeit, sie genauer zu mustern. Sie hat sich verändert, wirkt irgendwie ... erwachsener. Und ihre weichen weißblonden Haare, die immer in zwei langen Zöpfen rechts und links über ihre Schulter fielen, sind weg. Sie trägt jetzt kinnlanges Haar, ein wenig ungewohnt, aber es steht ihr. Die kornblumenblauen Augen jedoch leuchten unverändert hell.
„Anton", bringt sie schließlich hervor. Ihre sonst so melodiöse Stimme klingt rau.
„Hallo", sage ich etwas dümmlich.
„Wie bist du ... wann ... warum ...", stammelt sie und nimmt zaghaft die Hand von der Klinke, um sie nach mir auszustrecken, wie um sich zu vergewissern, dass ich wirklich da bin. Bevor ihre Hand meinen Arm berührt, hält sie inne.
Der Augenblick scheint stillzustehen, als ihre Hand dort im Raum schwebt und sich unsere Blicke treffen. Dann lässt sie ihren Arm sinken.
Die heldenhafte Rückkehr aus dem Krieg — sollte sie mir nicht um den Hals fallen? Was habe ich denn erwartet?
„Ich bin wieder da", sage ich.
„Ich wusste nicht ... warum hast du nicht geschrieben?" Die Frage klingt so hilflos, nicht anklagend, eher ... flehentlich.
„Ich habe ein Telegramm geschickt, aber ..."
„Ach, richtig. Unser Haus."
Ich nicke. „Tut mir leid."
Sie nickt ebenfalls. Dann schweigen wir wieder. Es gäbe so viel zu sagen. Wo soll man da anfangen?
„Seit wann bist du wieder hier?", fragt sie und schaut sich im Flur um, als wolle sie sehen, ob uns jemand beobachtet.
„Erst seit ein paar Tagen. Ich bin gekommen, so bald es mir möglich war."
Sie schenkt mir einen Blick, den ich nicht ganz deuten kann. Dann greift sie nach einem Wolltuch auf der Garderobe und schlingt es sich um den Hals. „Gehen wir eine Runde?"
Wir laufen nebeneinander durch das verschneite Markranstädt, das von den Bomben wenig zu spüren bekommen hat, kaum zehn Zentimeter voneinander entfernt auf den engen Bordsteigen, aber trotzdem ohne uns zu berühren.
„Wo ist Gerhard?", fragt Luise und die Frage klingt zögerlich. Sie schaut mich unsicher von der Seite an.
Ich blicke auf meine Füße. Das ist der schwerste Teil. Schon als ich es Mutter sagen musste ... Ich habe ihr nur erzählt, dass er gefallen ist, keine Einzelheiten. Ich könnte es nicht ertragen, die Szene noch einmal vor meinem inneren Auge wachzurufen. „Er ist nicht ... da", murmele ich. „Er ..."
Sie bleibt abrupt stehen. „Anton ..."
Ich wende mich zu ihr um und schaue ihr in die Augen. Das ist die ganze Bestätigung, die sie benötigt. Ihre Augen werden feucht und sie schlägt eine Hand vor den Mund. „Es tut mir so leid", flüstert sie.
„Mir auch."
„Er war ... immer so fröhlich und voller Optimismus..." Ihre Stimme bricht.
„Ja", sage ich und schlucke. „Was ... was ist mit deinem Vater?"
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Am Ende dieses Jahres
Teen FictionMit 16 in den Krieg. Schlesien 1945: Uhrmacherlehrling Anton Köhler würde lieber eine Geige in der Hand halten statt eine Waffe. Doch als um Neujahr 1945 die Rote Armee seinem Heimatort immer näher rückt, wird er zusammen mit seinen Altersgenossen a...