Irgendwann macht Wilhelm Halt. Vor uns liegt der Rand einer Kiesgrube von einigen Hundert Metern Durchmesser. Bis dahin habe ich mich nur willenlos mitschleifen lassen, ohne Sinn für die Umgebung und Richtung, in die wir laufen ... nur Gerhards leblosen Körper vor Augen.
Jetzt, da er mich loslässt, bleibe ich nach Luft ringend stehen, vornübergebeugt und die Hände auf den Knien abgestützt. Bittere Galle steigt in mir auf. Ich habe sie schon während des Laufens mehrmals herunterschlucken müssen. Jetzt lässt es sich nicht mehr zurückhalten. Es schüttelt mich wie ein innerer Krampf, alles in mir scheint sich zusammenzuziehen, als wollte sich mein Magen nach außen stülpen, und ich erbreche mich auf den Schotter. Als könnte ich damit irgendwie dieses Bild loswerden, und dieses schreckliche Gefühl der Leere.
Als der Anfall vorbei ist, fühle ich mich wie ausgelaugt. Ich sinke auf die Knie und starre auf meine Hände. Die rechte Hand ist noch mit vertrocknetem Blut beschmiert. Gerhards Blut.
„Besser?", fragt Wilhelm und ich zucke zusammen. Ich habe ganz vergessen, dass Braun noch hier ist.
„Besser?", bringe ich in einem heiseren Flüstern heraus. „Was soll besser sein?" Wie soll es jemals wieder besser werden? Wie kann ich noch lebendig sein — unverletzt — und er nicht!? Es ist einfach unbegreiflich.
„Egal", wehrt Wilhelm müde ab.
Aber ich will es nicht dabei belassen. Ich will die Konfrontation ... brauche sie. „Wie, schon gut? Nichts ist gut, verdammt. Es kann nie wieder gut werden. Scheiße ist das alles ..."
Ich erhebe mich auf wackeligen Knien, laufe wie ein Verrückter am Rand der Kiesgrube auf und ab und schreie irgendetwas Unverständliches. Meine Füße kicken nach allem, was sie erreichen können. Steinchen fliegen durch die Luft und ganze Schotterlawinen lösen sich unter meinen Tritten und rutschen den Rand der Grube hinunter, bis sie in die kleine Wasserpfütze platschen, die sich am Boden gesammelt hat. Ich will etwas zerstören ... und ich muss es herausschreien.
„Es ist alles deine Schuld", brülle ich Wilhelm an, der unschlüssig am Rand der Grube steht. „Du feige Made, du müsstest dort liegen, nicht er. Wenn du nicht weggelaufen wärst ..."
Selbst durch den roten Schleier meiner Trauer und Wut hindurch weiß ich, wie unsinnig diese Worte sind. Wenn ich schon irgendwem die Schuld gebe, dann mir. Ich habe nicht genug getan, um meinen besten Freund zu retten. Wie immer.
Wilhelm schaut mich nur mit zusammengepressten Kiefern an, ohne etwas zu sagen. Er lässt mich ins Leere laufen und das macht mich nur noch wütender. Ich stürme auf ihn zu, bis ich nur eine halbe Armeslänge vor ihm stehe. Wir starren uns in die Augen; sein Blick ist nicht minder fest und durchdringend, aber er sagt noch immer nichts. Sein Gesicht ist zerkratzt von Ästen und mit Dreckspuren übersät und unter der Nase trocknet das Blut von dem Schlag, den ich ihm versetzt habe.
Auf einmal fühle ich, wie die ganze Luft aus mir entweicht, wie bei einem Ballon, in den man eine Nadel gestochen hat. Übrig bleibt nur eine leere, weiche, schlabbernde Hülle. Um nicht wieder kraftlos zu Boden zu sinken, laufe ich ein paar Schritte zurück zum Rand der Kiesgrube und blicke über sie hinweg. Sie muss fast einen halben Kilometer im Durchmesser haben und wir sind vollkommen allein hier. Zwei einsame Menschen mitten im Nirgendwo, weit von der Stelle des Angriffs entfernt. Wie weit? Ich habe keine Ahnung ...
Was mag jetzt mit Gerhard geschehen sein? Mit Gerhards ... Körper? Der Gedanke schnürt mir die Luft ab.
Ich spüre die Schwere des Karabiners an meiner Schulter und auf einmal will ich ihn loswerden. Ich will das alles nicht mehr mitmachen. Es ist Wahnsinn, und sowieso alles umsonst. Ich reiße das Gewehr von meiner Schulter und stopfe blind die Patronen hinein. Dieses verdammte Ding, das mir nicht dabei geholfen hat, meinen Freund zu retten. Wozu das alles? Ich muss es loswerden, jetzt sofort — und die Erinnerung an alles auslöschen, was dieses Ding mir gebracht hat.
Mein erster Schuss geht irgendwohin, ungezielt, einfach in die Kiesgrube vor mir. Der Knall dringt an mein Ohr und der Rückstoß schlägt mir den Kolben an die Schulter, doch ich nehme es kaum wahr.
Noch ein Schuss. Diesmal in das Wasser unten, dass es schön platscht. Und noch einer ... Die Schüsse hallen in der leeren Kiesgrube — weithin hörbar, aber es ist mir egal.
„Was soll denn das?" Ich spüre Wilhelms Hand auf meiner Schulter und fahre herum, das Gewehr noch immer schussbereit.
Er springt zurück, als würde ein Löwe vor ihm stehen, und hebt die Hände. „Ich frage dich nur, was das soll", wiederholt er, leiser.
„Ich habe keine Lust mehr", schreie ich ihn an. „Ich mach diesen ganzen Scheiß nicht mehr mit. Die können mich mal. Ich bin raus hier, ich hau ab."
Ich richte das Gewehr wieder in die Grube, um die letzten meiner sechs Schüsse zu verpulvern, bevor ich nachlade.
„Veranstalte wenigstens nicht so einen Höllenlärm", sagt Wilhelm zwischen zwei Schüssen, aber ich nehme zufrieden wahr, dass er es nicht mehr wagt, mir nahezukommen.
Ich verschieße in rascher Abfolge ein weiteres Set von Patronen, ohne zu antworten. Dann ziehe ich eine Handgranate von dem Koppel und mache sie scharf. Ich schaue mich nach Wilhelm um, der mich wie blöd mit weit aufgerissenem Mund anstarrt. „Ich brauch die blöden Dinger nicht mehr."
Er weicht zurück und zeigt auf die Granate in meiner Hand, die ich beinahe vergessen habe. Mit einem weiten Schwung schleudere ich sie von mir und sie explodiert noch im Flug. Die nächste folgt sofort ... hinein ins Wasser auf dem Grund der Grube, dass es nur so spritzt und kracht.
Das ist irre, denkt irgendein verborgener Teil von mir, der sich noch über so etwas freuen kann ... über irgendetwas freuen kann.
„Ach Scheiße", höre ich Wilhelm nach einer Weile sagen. Zu meiner Überraschung tritt er dann neben mich und wirft ebenfalls eine seiner Granaten in die Grube. Eine Steinlawine löst sich und rutscht herunter.
„Wer es weiter schafft", sagt er mit zusammengebissenen Zähnen und zieht die nächste. Dann sehe ich die Panzerfaust, die Wilhelm noch immer bei sich getragen hat. Nachdem er die nächste Granate weggeworfen hat, deute ich darauf.
„Brauchst du die noch?" Er sieht mich kurz an. Sein Blick scheint abschätzen zu wollen, ob ich noch ganz bei Sinnen bin. Dann zuckt er mit den Schultern und händigt sie mir aus.
Ich setze das schwere Rohr an meine Schulter, während er mir kopfschüttelnd zusieht.
„Das ist verrückt, Köhler." In seiner Stimme schwingt ein kleines bisschen widerwillige Anerkennung mit.
Dann gibt es einen lauten Peng, als die Granate aus der Panzerfaust in der Kiesgrube einschlägt und eine riesige Fontäne von Wasser, Sand und Steinen in die Höhe schleudert.
„Irre", murmele ich mit bitterer Befriedigung. Ein Feuerwerk. Für Gerhard.
Wilhelm verschießt ebenfalls seine Karabinerpatronen. Als ich bei meiner letzten Granate ankomme, da kracht es hinter uns viermal.
Wir erstarren beide und schauen uns langsam, suchend um. Etwa fünfzig Meter weiter, am Rand der Grube, sind drei Gestalten aufgetaucht. Männer in der Uniform deutscher Soldaten — mit dem unverkennbaren sichelförmigen Blechschild an der Kette um den Hals ... Kettenhunde. Der eine hat seine Pistole erhoben und damit wohl in die Luft geschossen, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen.
„Scheiße", murmelt Wilhelm.
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Am Ende dieses Jahres
Teen FictionMit 16 in den Krieg. Schlesien 1945: Uhrmacherlehrling Anton Köhler würde lieber eine Geige in der Hand halten statt eine Waffe. Doch als um Neujahr 1945 die Rote Armee seinem Heimatort immer näher rückt, wird er zusammen mit seinen Altersgenossen a...