Wilhelm lässt sich neben mir ins Gras sinken. Auch wenn mich seine Gesellschaft nicht mehr stört, will ich im Moment lieber meine Ruhe haben. Allerdings bin ich zu müde, um ihn zu vertreiben. Oder um überhaupt ein Wort mit ihm zu wechseln. Eine Weile schauen wir nur dem Treiben im Lager zu. Die langen Schlangen vor den Pontonbrücken werden nicht kürzer. Viele Soldaten haben es bereits aufgegeben, zu warten, bis sie an der Reihe sind, und fällen Bäume in einem nahen Wald, um sich Flöße zu bauen. Um uns herum strömen immer mehr Menschen zum Flussufer.
„Was meinst du, wie lange es dauern wird?", fragt Wilhelm.
Ich zucke mit den Schultern. „Zu lange", sage ich müde.
Wilhelm schaut mich unverwandt von der Seite an. „Was jetzt?"
„Warum fragst du mich das?" Seit wann bin ich derjenige, an den Wilhelm sich wendet, um Rat zu erhalten?
„Wir könnten den Floßbauern unsere Hilfe anbieten", sagt er, ohne auf meine patzige Antwort einzugehen.
„Das bringt doch nichts."
„Hier herumsitzen bringt es aber auch nicht", fährt Wilhelm mich an.
Ich starre vor mich hin, die Arme um die Knie geschlungen und das Kinn darauf gestützt. Unten am Ufer legen einige Soldaten ihre Ausrüstung ab und waten ins Wasser, um sich in die Strömung zu stürzen. Die Fluten sind so grau wie der Himmel über uns. Ich beobachte die stecknadelgroßen Köpfe, wie sie den Fluss hinabtreiben, von der Strömung gezerrt und herumgewirbelt. Einige der Köpfe verschwinden, bevor sie das andere Ufer erreichen, verschluckt von dem reißende Fluss.
„Irgendwas müssen wir doch tun", fängt Wilhelm erneut an.
„Dann geh doch zu den Flößen", sage ich unbeteiligt. „Geh und frag, ob sie dich mit übersetzen lassen. Könntest Glück haben."
„Und du?"
Ich zucke mit den Schultern.
„Willst du hier sitzenbleiben, bis die Russen kommen?", lässt er nicht locker.
„Was interessiert es dich?"
„Es interessiert mich nicht", gibt er verächtlich zurück. „Ich dachte nur, du wärst nicht mehr so feige ..."
„Feige?"
„Hier sitzen und nichts tun, kann jeder", sagt er. „Ist natürlich einfacher, als einen Weg zu finden, über den Fluss kommen."
Ich runzle die Stirn. Kann er mich nicht endlich in Frieden lassen?
Wilhelm blickt eine Weile finster vor sich hin. „Weißt du ... ich hab dein Selbstmitleid langsam satt. Reiß dich endlich zusammen", herrscht er mich an. „Du bist nicht der Einzige, der einen Freund im Krieg verloren hat. Das ist nun mal so. Im Krieg sind schon immer Männer gefallen und die Leute sind damit klargekommen und haben weitergemacht."
„Woher willst du wissen, wie es ist, einen Freund zu verlieren! Du hast doch gar keinen!"
„Und was für ein Freund bist du, wenn du's ihm so zurückzahlst?", fragt er ruhig.
Ich balle die Fäuste und rupfe einige verwelkte Grashalme aus. Ich sollte mich nicht um seine Worte kümmern, das weiß ich, aber ich kann nicht anders. „Was soll das heißen?"
„Wem tust du einen Gefallen damit, wenn du jetzt auch noch draufgehst? Das macht ihn auch nicht wieder lebendig. Und er würde das wohl kaum wollen."
Ich beiße die Zähne zusammen und werfe die Grashalme weg. Ist mir egal, was er sagt. Was weiß er schon über Gerhard, oder mich, oder irgendwen sonst? Ich kann nicht ohne ihn nach Hause kommen.
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Am Ende dieses Jahres
Teen FictionMit 16 in den Krieg. Schlesien 1945: Uhrmacherlehrling Anton Köhler würde lieber eine Geige in der Hand halten statt eine Waffe. Doch als um Neujahr 1945 die Rote Armee seinem Heimatort immer näher rückt, wird er zusammen mit seinen Altersgenossen a...