Kapitel 5

127 16 1
                                    

Die Feiertage und auch die Tage darauf vergehen viel zu schnell. Wir machen Schneeballschlachten, rodeln den Friedhofshügel hinunter und schlittern auf dem zugefrorenen Dorfweiher. Das einzig Ungewöhnliche ist, dass Mutter damit beginnt, Taschen und Koffer mit den wichtigsten Habseligkeiten zu packen – falls wir ohne Vorwarnung abreisen müssen.

Am Neujahrstag trudelt die Nachricht ein, dass sich alle Jungs des Jahrgangs '29 beim Heim unserer früheren Hitlerjugendkameradschaft melden sollen. Seit ich meine Lehre angefangen habe, bin ich in Breslau zur HJ gegangen. Deshalb verwundert mich dieser Befehl und hinterlässt ein ungutes Gefühl.

Als ich auf dem Hof der alten Weberei ankomme, sehe ich Gerhard und viele meiner ehemaligen Kameraden bereits dort versammelt. Mit einigen von ihnen habe ich die Volksschule besucht. Leider ist Wilhelm Braun auch darunter.

»Hey, Anton, wie läuft's?« Herbert klopft mir freundschaftlich auf den Rücken. Er war der Kapitän unserer Fußballmannschaft. »Hast du eine Ahnung, was das alles soll?«

»Vielleicht wollen sie uns zum Schneeschippen abkommandieren«, erwidere ich hoffnungsvoll.

Wilhelm zieht die Brauen hoch. Er wirkt selbstgefällig, als wüsste er mehr als wir. Ich tue ihm nicht den Gefallen, meine Neugier zu zeigen. Wir waren uns schon in der Schulzeit nicht grün, weil ich es nicht ausstehen konnte, wenn er Schwächere schikaniert hat. Aber da sein Vater so ein hohes Tier bei der SS ist, konnte keiner etwas gegen ihn ausrichten.

Wilhelm kommt angeschlendert. Vor mir bleibt er stehen und schaut auf mich herab wie auf ein unliebsames Insekt.

»Na, Köhler, lässt du dich auch mal wieder hier blicken?«

»Hab Urlaub«, nuschele ich.

Er überragt mich um gut einen Kopf. Mit seinen militärisch kurz geschnittenen blonden Haaren und den durchdringenden grauen Augen sieht er aus, als wäre er direkt einer dieser Nazi-Zeitschriften entsprungen. Gerhard stellt sich neben mich. Er ist zwar ebenso groß wie Braun, aber eher dünn und schlaksig, während Wilhelm seine Muskeln vom Boxen hat. Ich bin weder so groß wie Gerhard noch so muskulös wie Wilhelm. Sehnig wie eine Wildkatze, sagt Mutter immer, und meint, das komme vom vielen Herumturnen als Kind im Wald.

»Ach ja, bist ja jetzt Uhrmacher. Wie dein Alter.«

»Was soll das heißen?«, quetsche ich hervor.

Gerhard legt mir eine Hand auf den Arm und sieht mich warnend an.

»Eine echt kriegswichtige Arbeit«, höhnt Wilhelm. »Aber vielleicht kommst du ja bald dazu, was Nützliches zu machen.«

»Ohne Uhren würde die Wehrmacht nicht funktionieren«, sagt eine dünne Stimme hinter mir. »Militärische Pünktlichkeit.«

Ich drehe mich um und lächle August zu. Früher hätte er sich nicht gegen Wilhelm aufgelehnt. Er war immer einer derjenigen, die am meisten unter ihm zu leiden hatten. Als Wilhelm einmal unseren Kameradschaftsführer vertreten hat, hat er August so sehr geschliffen, dass er in der Sommerhitze beinahe zusammengebrochen wäre. August war eben noch nie eine Sportskanone, dafür aber Klassenerster.

»Wer hat dich gefragt?«, fährt Wilhelm ihn an.

Ich ignoriere ihn. »Wie geht's, August?«

»Gut. Ich bin jetzt auf dem Gymnasium.«

Wie Luise, denke ich wehmütig.

»Weißt du, was sie mit uns vorhaben?«

August schüttelt seinen Lockenkopf. »Vielleicht werden wir eingezogen«, flüstert er mit aufgerissenen Augen.

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt