Kapitel 14

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Endlich nähern wir uns Liegnitz, dem Ort, an dem angeblich Züge für uns bereitstehen sollen. Nach anderthalb Tagesmärschen durch Schnee und Eis und einer Übernachtung in einer unbeheizten Scheune mit der ständigen Angst vor Fliegerangriffen im Nacken, sind wir alle ausgelaugt und müde.

Ich bin mit Gerhard im vorderen Bereich des Marschzuges eingereiht und spähe immer wieder in den wolkenverhangenen Himmel, lausche auf das unterschwellige Brummen von Motoren, suche die Umgebung nach Versteckmöglichkeiten ab. Diese Vorsicht geht einem sehr bald in Fleisch und Blut über. Zur Zeit befinden wir uns auf ungeschützter Fläche. Auf beiden Seiten der Straße erstrecken sich schneebedeckte Äcker, und erst in einiger Entfernung schließt sich die Baumreihe eines Wäldchens an. Der Tag neigt sich dem Ende zu; mein Brotbeutel ist leer, mein Magen auch.

Gerhard stößt mich in die Seite und deutet geradeaus. Ich befürchte sofort das Schlimmste, doch es sind keine Tiefflieger zu sehen. Hinter einer Kurve der Straße kommen Menschen in Sicht, noch kaum mehr als ein paar dunkle Pünktchen im Schnee. Man erkennt nur, dass es eine große Masse sein muss, so wie unser Zug.

„Vielleicht eine Flüchtlingskolonne?" Ich strecke mich, um über die Köpfe unserer Vorgänger hinwegzuspähen.

„Die schleichen ja nur so dahin", meint Gerhard.

Wir schließen tatsächlich rasch zu ihnen auf. Vielleicht kommen sie aus Rücksicht auf Alte und Kinder langsamer voran. Mein Herz klopft plötzlich schneller, als mich die unbegründete Hoffnung anspringt, Mutter könnte vielleicht darunter sein.

Ein Schuss kracht. Ich zucke zusammen und unsere Kolonne gerät ins Stocken. Alle schauen sich verwirrt um. „Los weiter", ruft uns Stoß von vorne zu. „Das galt nicht euch."

Wem dann? Wir marschieren vorwärts, ich erkenne jetzt Männer in schwarzen Mänteln mit Gewehren über der Schulter, die das Schlusslicht des Zuges bilden.

Und dann kommen sie in Sicht ... dutzende, hunderte von Menschen in dem blau-weiß-gestreiften Drillichzeug, das mich immer an Schlafanzüge erinnert. Ein Häftlingszug.

Ich schaue Gerhard an, der den Blick mit gerunzelter Stirn erwidert. Unruhe kommt in den Reihen vor uns auf. Alle Köpfe wenden sich nach rechts.

„Augen geradeaus", brüllt Unteroffizier Stoß an der Spitze, aber keiner hört auf ihn. Am Straßenrand liegt ein Bündel aus Kleidern. Nein, nicht nur Kleider ... da steckt ein Mensch drin. Er ist halb zusammengerollt, der Drillichanzug ist über den dünnen Armen nach oben gerutscht und ein knochiger Schädel ragt aus dem Schnee heraus. Im Rücken klafft ein schwarzes Loch. Es blutet kaum, aber mir wird noch kälter.

„Kompanie Halt!" Wir bleiben stehen. Die Führer müssen gemerkt haben, dass die Unruhe unter uns zu groß ist. Ein verständnisloses Gemurmel hat sich erhoben. Vor uns kracht wieder ein Schuss und raue Stimmen brüllen Schimpfwörter und „Schneller! Los! Marsch!"

Unser Zugführer, ein drahtiger Feldwebel, läuft voran und holt den Häftlingszug ein. Er redet mit einem der Wachen und gestikuliert dabei heftig.

Aus welchem KZ mögen die stammen? Und warum treibt man sie jetzt durch die Kälte? Vielleicht sind sie zu einem Arbeitseinsatz unterwegs oder sie werden evakuiert, so wie wir. Die Aufseher des KZ-Zuges brüllen etwas. Vor unsere Augen teilt sich die graue Masse der Häftlinge und strömt zu beiden Seiten an den Straßenrand, wo sie zitternd in den Schnee sinken.

„Sie lassen uns durch. Wir marschieren im Eiltempo vorbei. Alle Mann marsch!" schreit unser Zugführer und der Befehl wird nach hinten weitergegeben, während wir uns schon in Bewegung setzen.

Voller Unbehagen rennen wir beinahe an den Häftlingen vorbei. Ein fauler Geruch liegt in der Luft, den ich nicht einordnen kann. Wenn ich die dünnen Anzüge anschaue, wundere ich mich, dass nicht die Hälfte von ihnen schon erfroren ist. Mit leerem Blick starren die meisten von ihnen an uns vorbei oder auf den Boden. Totenkopfgesichter ... ob Mann oder Frau ist kaum zu unterscheiden. Die Wachen stehen breitbeinig am Straßenrand, zünden sich Zigaretten an, plaudern, lachen. Ich kann meinen Blick nicht abwenden von den leichenhaften Gestalten.

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt