Kapitel 29

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Ich liege auf dem kalten, harten Boden zwischen dornigen Sträuchern und behalte die Straße im Blick. Wann kommen die Panzer, die wir aufhalten sollen? Wo bleiben die so lange? Gerhard hockt neben mir, die Panzerfaust bereit. Meine Müdigkeit und Abgeschlagenheit wird für den Moment abgelöst von dem Rausch der Aufregung, dem Herzklopfen der Angst.

Ich schaue mich um. Die feldgrauen Uniformen meiner Kameraden verschmelzen mit den Grau- und Brauntönen der kahlen Landschaft. Kaum einer aus unserem Zug ist älter als 16 oder 17 Jahre. Und wir werden von einem jungen Leutnant geführt, selbst gerade mal 22 und kaum kampferfahren ist. So ist es bei unserer gesamten Division. Bei der gesamten 12. Armee. Und wir sollen die letzte Hoffnung für das Reich sein? Die Rettung für Berlin?

Ich habe komplett das Zeitgefühl verloren. Wie lange ist es her, seit wir vereidigt wurden? Ist Ostern schon vorbei? Die Tage und Nächte verschwimmen, eine Aneinanderreihung der immer gleichen Ereignisse ... Feindlicher Angriff, Flucht, Neuanschluss, erneuter Angriff. Keiner — nicht einmal unser Battailonskommandant — weiß, wo die Hauptkampflinie verläuft. Wir sind wie Schachfiguren auf dem Schachbrett eines Blinden.

Ich habe auch keinen Orientierungssinn mehr, kein Gefühl dafür, wo ich bin. Irgendwo in Mitteldeutschland, zwischen Dessau und Berlin. Heidelandschaft wechselt sich ab mit brachliegenden Äckern, Dörfern und kleinen Ortschaften, viele von ihnen verlassen.

Ein schwaches Summen ertönt und schwillt rasch an. Aus östlicher Richtung rasseln sie die Straße entlang ... Russenpanzer. Dutzende. Beim Anblick dieser Stahlmonster mit den langen, rotierenden Stacheln schlägt mir das Herz bis zum Hals.

Gerhard befeuchtet seine Lippen und legt sich in Bereitschaft.

„Das ist verrückt — die können wir nie aufhalten", sage ich. Wir sind gerade einmal eine Hand voll.

Gerhard lässt nicht von seinem Ziel ab. Mit entschlossenem Gesichtsausdruck fixiert er den Panzer an der Spitze.

Da ist sie wieder, diese Situation. Ich muss schießen — so lautet der Befehl. Diesmal sind es nur Stahlungetüme, keine Menschen, aber ich weiß, dass sich darin welche befinden.

„Feuer", ruft der Zugführer.

Gerhard feuert seine Panzerfaust ab und der Knall dröhnt mir in den Ohren. Sein Geschoss zischt direkt zwischen die Ketten des ersten Panzers. Der kommt mit einem Quietschen zum Stehen. Es folgt eine gewaltige Druckwelle ... ein gleißender Lichtblitz ... ich weiche geblendet zurück, die Ohren taub, aber den Blick wie hypnotisiert auf das Schauspiel gerichtet.

Der Turm des Panzers fliegt wie in Zeitlupe meterhoch in die Luft, dann scheint er kurz stehenzubleiben und fällt, einen rauchenden Schweif hinter sich herziehend, immer rasanter dem Boden entgegen. Ein feuriger Komet. Blechteile regnen auf uns herab. Der getroffene Panzer liegt rauchend und in Stücke gerissen auf der Seite in einem Krater.

„Los, den nächsten!", schreit der Leutnant mir zu, da ich meine Panzerfaust noch nicht abgefeuert habe.

Doch die Panzer haben uns jetzt entdeckt. Ihre Türme schwenken und richten sich auf uns aus. Die spärlichen Büsche am Straßenrand bieten nicht genügend Deckung. Dann speien die Rohre Feuer. Die Granaten schlagen um uns herum ein, fetzen Erdstücke in die Luft und dem Leutnant die Beine weg. Ich ziehe Gerhard am Arm fort. Nur weg ... wie immer ... fliehen. Das ist das einzige, das ich gut kann.

Wir rennen über das matschige Feld, während die Panzer uns mit einer unheimlichen Geschwindigkeit verfolgen. Erde stiebt um uns auf. Wir finden Schutz hinter einem Hügel und rennen weiter zu einem Waldstück, wo wir kurz verschnaufen, schmutzig und durchgeweicht. Weiter ... Immer weiter ... Ein Stück Schokolade in den Mund zur Aufmunterung ... die letzten Energiereserven mobilisieren.

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt