„Was ist das für ein müder Haufen!", brüllt Feldwebel Müller mit einer für seinen Körperbau erstaunlich durchdringenden Stimme. „Sie Waschlappen! Sie Blindschleichen! Sie —"
Ich lasse die Schimpfworte an mir abperlen wie den Nieselregen, der uns seit Tagen penetrant begleitet, höre gar nicht mehr richtig hin. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen und ich bin noch schläfrig nach der Nachtwache. Trotzdem wurden wir um fünf Uhr geweckt, um pünktlich 5 Uhr 30 zum Morgenappell anzutreten. Wenn wir also aussehen wie ein müder Haufen, dann verwundert mich das kein bisschen.
„Nichts, was ein bisschen Frühsport nicht kurieren könnte", schreit Feldwebel Müller, nachdem er seine Schimpfkanonade losgeworden ist und ihm keine weiteren Worte mehr einfallen. Er klingt schon beinahe erfreut bei der Vorstellung, uns ordentlich schleifen zu können. „Wir fangen an mit fünfzig Kniebeugen. Na los!"
Seine stahlgrauen Augen bohren sich in meine und ich gehe rasch in die Knie. Er erinnert mich an einen kleinen, bissigen Terrier — einen Kopf kleiner als ich, drahtig, mit lautem Organ und spitzem Gesicht. Unter seiner Kappe schauen kurze, graue Haarstoppeln hervor.
Während ich mich auf- und abfedern lasse, kommt er immer wieder bei mir vorbei und brüllt mir ins Ohr. „Tiefer, Köhler!" Einmal drückt er mich grob ein Stück weiter nach unten, sodass ich fast das Gleichgewicht verliere. „Sie machen noch zehn weitere. Mit so etwas Halbgarem fangen wir gar nicht erst an."
Ich beiße die Zähne zusammen. Der einzige Trost ist, dass ich selbst in der Hocke fast genauso groß bin wie dieses Männchen.
Anschließend jagt er uns noch auf einen Zehn-Kilometer-Lauf durch den Wald, der die Kaserne umgibt. Wir tragen die volle Ausrüstung am Körper — Gasmaske, Spaten, Tornister —, alles klappert an dem Koppel, dem Gürtel, an dem die Gegenstände festgeschnallt sind.
Während ich aus voller Kehle die Lieder schmettere, die er anstimmt, und meine Stiefel durch den Matsch spritzen, rechne ich im Kopf aus, wie viele Tage wir schon hier sind und wie viele uns noch bevorstehen. Und ich frage mich, ob das, was danach kommt, besser oder schlechter sein wird.
Ich stelle fest, dass wir erst vor drei Tagen hier in der Kaserne bei Roßleben eingetroffen sind — es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Direkt am ersten Tag hat Feldwebel Müller uns klargemacht, dass die nächsten vierzehn Tage kein Zuckerschlecken werden.
„Hier gibt es keine Welpenschonung! Der Krieg nachher wird Sie auch nicht schonen. Entweder Sie können mithalten oder Sie gehen zugrunde!" Nach dieser motivierenden Ansprache hat er uns noch eingebläut, dass es auf Gehorsam ankommt, und nichts als Gehorsam.
„Sie lernen zwar hier den Gebrauch der Waffen, das Verhalten im Gelände und so weiter. Aber vor allem lernen Sie eins — Befehle befolgen! Das ist das A und O. Das kann später über Leben und Tod entscheiden. Wenn Ihnen ein Vorgesetzter einen Befehl erteilt, dann haben Sie ihn ohne zu zögern, ohne nachzudenken, ohne zu fragen, sofort auszuführen. Sonst erwischt es im besten Fall Sie, im schlimmsten den ganzen Zug." Er tippte sich mit dem Finger gegen seine Schläfe. „Also lernen Sie besser gleich, das Ding da drin auszuschalten. Ist mir egal, ob Sie in der Oberprima waren oder sonst wo — wer nachdenkt, kriegt eine Extraportion Putzdienst, und zwar in der Latrine."
Um neun Uhr, nach dem Frühstück, ist der Theorie-Unterricht an der Reihe, den die meisten von uns zum Nachholen ihres Schlafs nutzen. Außer, wenn Major Schirmer spricht — so wie heute. Er ist der Befehlshaber der Kaserne. Eine beeindruckende Erscheinung. An der Brust blitzen das Eiserne Kreuz, das silberne Verwundetenabzeichen, die goldene Nahkampfspange, das Infanterieabzeichen, und andere Orden. Aber am meisten ist mir von Anfang an das schlohweiße Haar aufgefallen. Es ist wirklich weiß, nicht etwa weißblond, wie das eines alten Mannes, obwohl sein Gesicht noch jung wirkt. Ich schätze ihn auf höchstens vierzig. Seine Augen strahlen gleichzeitig scharfe Aufmerksamkeit und Milde aus und er hat die Macht, mit seiner Stimme alle in seinen Bann zu ziehen.
„Guten Morgen, Rekruten!", ruft er und hebt flüchtig die Hand zum deutschen Gruß. Wir antworten mit der gleichen Geste.
„Für heute steht Waffenkunde auf dem Plan."
Ich sitze neben Gerhard auf einem harten Holzstuhl in der Kantine, in der zu diesem Zweck die Tische und Stühle ähnlich wie in einem Klassenzimmer zusammengerückt worden sind, sodass wir alle die weiße Wand vorne anstarren, an die manchmal Dias projiziert werden.
„Wie Sie wissen, werden Sie von uns zu Panzergrenadieren ausgebildet. Deshalb ist es von besonderer Bedeutung, dass Sie die eigenen und feindlichen Panzer im Schlaf auseinanderhalten können. Ich will Sie nicht anlügen — die Ausbildungszeit ist kurz und es wäre mir lieber, wir hätten mehr Zeit. Aber das lässt die momentane Lage nun einmal nicht zu."
Er lässt seinen Blick über die ganze versammelte Gruppe schweifen und alle hängen an seinen Lippen. „Sie alle — obwohl Sie noch sehr jung sind, manche von Ihnen gerade einmal sechzehn geworden — wurden zu der verantwortungsvollen Aufgabe gerufen, den Dienst an der Waffe für das Vaterland zu leisten. Der Führer hält auch die Jugend — Sie — für fähig und vor allem mutig genug, in diesen Zeiten der Not ihm und unserem Reich beizustehen und es zu verteidigen, koste es was es wolle. Unsere Feinde rücken von allen Seiten heran. Laut Wehrmachtsbericht, der mir jetzt vorliegt, haben die Amerikaner vor einigen Tagen den Rhein bei Remagen überschritten."
Ein Aufstöhnen geht durch die Menge wie eine Welle.
„Und im Osten", fährt der Major laut fort, „plündern und brandschatzen die Russen auf deutschem Boden und vergreifen sich an unseren Frauen und Kindern. Es kommt also auf jeden einzelnen Mann an, und auf jeden einzelnen Tag. Deshalb werden wir hier unser Bestes tun, Sie so gut wie möglich vorzubereiten. Ich erwarte von jedem Einzelnen, dass er aufmerksam zuhört. Sie tun sich selbst keinen Gefallen, wenn Sie unaufmerksam sind. Das ist keine Oberschule, sondern eine Überlebensschule. Abschreiben und schlafen gehen auf Ihre eigenen Kosten." Er schaut uns streng und eindringlich an.
Dann beginnt er mit dem Unterricht. Er macht es uns nicht schwer, gebannt zuzuhören. Statt trockener Theorie, lässt er uns an seinen eigenen Kampferfahrungen teilhaben und betont dabei immer wieder die Tapferkeit der Soldaten, mit denen er kämpfen durfte, 1944 an der französischen Küste.
Er lässt uns auch Fragen stellen und beantwortet sie alle geduldig und mit Freude. Sogar ich hebe auf einmal meinen Arm. Als er mich aufruft, springe ich vom Stuhl und stehe stramm. Alle Augen sind auf mich gerichtet. Doch jetzt gibt es kein Zurück mehr.
„Herr Major, wie schätzen Sie den weiteren Verlauf des Krieges ein?", frage ich und halte den Atem an.
Der Major schweigt einen Augenblick und ich spüre, wie sich die Atmosphäre im Raum merklich ändert. Es wird still. Alle sind daran interessiert, aber keiner hat sich getraut, zu fragen. Ich beobachte das Gesicht des Majors besorgt. Seine Augen fixieren mich mit dieser Durchdringungskraft, die mich leicht erschauern lässt.
„Wie heißen Sie?"
Ich schlucke. „Köhler, Anton, Herr Major."
„Herr Köhler, Sie können sich setzen."
Ich lasse mich auf den Stuhl plumpsen und will mich so klein wie möglich machen. Gerhard hebt die Augenbrauen. Doch der Major fährt fort, den Blick jetzt in weite Ferne gerichtet.
„Sie wollen von mir wissen, ob ich an den Endsieg glaube?"
Ich setze mich wieder aufrecht hin und mein Herz klopft bis zum Halse. So eine verfängliche Frage wollte ich nie stellen!
Doch Major Schirmer fährt vollkommen ruhig fort. „Nun, ich kann nicht in die Zukunft schauen. Ich kann nur eines sagen: Solange die deutschen Soldaten mit ganzem Herzen und ganzer Seele für ihr Vaterland kämpfen, so lange können wir nicht verlieren, was auch immer am Ende geschehen mag."
Es herrscht Stille, dann setzt leises Raunen ein. Die kryptische Antwort sorgt für Verwirrung. Ich habe Angst, dass man es ihm sogar als Zweifel am Endsieg und Wehrkraftzersetzung auslegen könnte, wenn irgendeiner seiner Unteroffiziere ihm eins auswischen will. Ich beiße mir auf die Zunge. Warum habe ich nur die Frage gestellt?
Gerhard stößt mich mit dem Ellbogen leicht an.
„Das war mutig von dir", sagt er.
Ich schüttle den Kopf. „Nein. Von ihm", flüstere ich zurück.
Nach dem Unterricht schwirrt mir noch immer der Kopf von all den neuen Begriffen und technischen Einzelheiten, die wir uns merken sollen. Zwei Wochen, denke ich wieder. Zwei Wochen Galgenfrist ...
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Am Ende dieses Jahres
Teen FictionMit 16 in den Krieg. Schlesien 1945: Uhrmacherlehrling Anton Köhler würde lieber eine Geige in der Hand halten statt eine Waffe. Doch als um Neujahr 1945 die Rote Armee seinem Heimatort immer näher rückt, wird er zusammen mit seinen Altersgenossen a...