Kapitel 24

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Die nächsten Tage verbringe ich so viel Zeit wie möglich mit meiner Familie. Wir reden nicht viel über die bevorstehende Musterung und das, was es bedeutet, denn es ist uns allen nur zu klar. Gerhard und ich sind gesund und sportlich und haben daher keine Hoffnung auf Ausmusterung.

Erst am Abend vor unserer Abreise kann ich mich dazu durchringen, zu Hofmanns hinüberzugehen. Ich habe Luise seit dem Bombenangriff kaum noch gesehen, weil wir nicht mehr zusammen diese Unternehmungen machen konnten und sie in ihrem Dienst sehr eingespannt ist. Die ganze Nacht habe ich darüber nachgegrübelt, was ich zu ihr sagen soll, wenn wir uns sehen.

Als ich Gerhard erzähle, dass ich zu ihr rübergehe, meint er grinsend: „Sag ihr, dass es das letzte Mal sein könnte, dass ihr euch seht. Dann gibt sie dir vielleicht einen Kuss."

„Ha, ha!", sage ich und knuffe ihn in die Rippen.

„Im Ernst — Mädchen mögen so was. Was denkst du, wieso die Lena so auf mich geflogen ist?"

„Ich will ihr keine Angst machen." Nachdem sie mir von ihrem Vater erzählt hat, würde ich mir schäbig vorkommen, so eine Situation auszunutzen.

Gerhard seufzt ergeben. „Wie du meinst. Dann beschwer dich aber auch nicht, wenn du keine abkriegst."

Ich ignoriere ihn und ziehe mir den Mantel über. Vor dem Nachbarshaus stehe ich eine Weile unschlüssig vor der Tür und versuche noch einmal, mir passende Worte zurechtzulegen, aber mein Geist ist wie leergefegt. Also los!

Auf mein Klopfen hin öffnet Luises Mutter.

„Hallo Anton, was gibt es?", fragt sie mit müder Stimme

„Ich wollte mit Luise sprechen", krächze ich und räuspere mich.

„Natürlich. Komm rein. Sie übt gerade."

Klaviertöne dringen aus der Stube und ich folge dem Klang ins Zimmer hinein. Dort bleibe ich eine Weile stehen und höre ihr schweigend zu, bis sie das Stück zu Ende gespielt hat. Erst dann scheint sie meine Gegenwart zu bemerken. Ihre Augen weiten sich.

„Oh, ein heimlicher Zuhörer!" Sie lächelt mich an.

„Ich wollte nicht stören ..."

„Ach was. Das war nur ein bisschen Geklimper. Möchtest du etwas Richtiges hören?"

Ich nicke, froh, dass ich die Nachricht noch etwas aufschieben kann.

Sie beugt sich wieder über die Tasten und schlägt die ersten Töne an. „Du musst mir sagen, ob du es erkennst."

Und ob ich es erkenne. Es ist ‚unser' Lied, die Träumerei. Und sie spielt es extra für mich. Während ihre Finger über das Klavier tanzen und die vertrauten melancholischen Töne erklingen, muss ich daran denken, dass es vielleicht das letzte Mal ist, dass ich ... Nein! Ich komme zurück. Auf jeden Fall! Und dann ... was dann?

Dann wirst du also Uhrmacher?, höre ich wieder ihre Frage, die sie mir letzten Sommer gestellt hat, die Enttäuschung in ihrer Stimme.

Luise hat die Augen geschlossen. Aber warum laufen ihr Tränen über die Wangen? Ich würde zu gern meine Hand ausstrecken, um sie wegzuwischen.

Als der letzte Ton verklungen ist, dreht sie sich zu mir um und schaut mir in die Augen. Ihr Blick ist so intensiv, dass ein Kribbeln von meinem Haaransatz bis zu meinen Zehen läuft. Ich muss mich zwingen, nicht wegzuschauen.

„Und ...?", fragt sie. „Hast du es erkannt?"

Ich kann nur nicken. Dann fällt mir wieder ein, warum ich hergekommen bin. Mist! „Hast du kurz Zeit?"

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt