Der Luftdruck schleudert mich zu Boden. Gerhard kommt neben mir auf. Betäubt versuche ich mich zu orientieren.
Eine Sprenggranate hat das Dach des Gasthofs abgerissen und die Menschen, die davor angestanden haben, unter einer Trümmerlawine begraben. Einen Sekundenbruchteil lang herrscht eine unnatürliche Ruhe, als wäre die Welt zum Stillstand gelangt. Dann bricht das Chaos los. Soldaten schreien und rennen durcheinander, das ganze Dorf ist in Aufruhr. Schüsse krachen und weitere Einschläge dröhnen.
Ich ziehe Gerhard auf die andere Seite der Böschung, wo wir ein wenig Deckung haben, und schaue mich wild um. Woher kommen die? Wohin sollen wir?
Da rennt Wilhelm auf uns zu. Er sieht bleich aus wie der Tod. „Panzer... Hunderte...", japst er und springt neben uns über die Böschung.
Übertreibt er wieder mal? Doch schon erschallt das Klirren der Ketten und das langsam anschwellende Motorenbrummen. Eine Sprenggranate schlägt im Gebäude neben uns ein. Splitter fliegen durch die Luft. Ich werfe mich zu Boden, die Arme schützend über den Kopf gelegt. Kaum ist es vorbei, springe ich auf die Beine. Gerhard ist schon auf, gut.
„Die kommen von allen Seiten", brüllt er mir ins Ohr.
„Verdammte Russen. Haben sich angeschlichen", schreit Wilhelm mit angstverzerrtem Gesicht.
Da sausen die Panzer bereits über die Hügelkuppe und poltern die Dorfstraße entlang. Andere rollen mit einer für so massige Stahlmonster gruseligen Schnelligkeit von der anderen Seite auf uns zu, querfeldein. Der Weg durchs Dorf ist versperrt, dort folgt ein Einschlag auf den nächsten. Bleibt nur ein möglicher Fluchtweg. Der Gedanke kommt mir innerhalb weniger Augenblicke, in denen mein Herz schneller schlägt, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Das Blut schießt durch meine Adern und treibt mich an.
„Die Pferdekoppel!", brülle ich den beiden zu. „Über die Koppel!"
Ich bin schon auf den Beinen und sprinte los. Mit einem mühelosen Sprung setze ich über den Koppelzaun und wende mich kurz um. Gerhard macht es mir nach, aber Wilhelm zögert. Die Pferde sind panisch. Die ganze Herde von einigen Hundert peitscht wie von Furien verfolgt über die Koppel. Ihre Augen angstgeweitet, die Nüstern aufgebläht, versuchen sie dem Lärm und Chaos zu entkommen und können es doch nicht. Ihre stampfenden Hufe wirbeln Staub und Stücke der Grasnarbe auf. Aber ich kenne das Verhalten von Pferden noch von meiner Arbeit beim Bauern.
„Die rennen dich nicht über den Haufen", rufe ich Wilhelm zu, obwohl ich nicht weiß, warum er mich kümmern sollte.
Er schaut mich einen Moment lang skeptisch an, doch dann überwiegt die Angst vor dem, was uns verfolgt, und er springt ebenfalls über den Zaun.
Ich husche zwischen den dahingaloppierenden Pferden hindurch, gefangen in einem Gewirr aus Kugeln, Staub und Hufen. Aber sie weichen uns aus ... Selbst scheuende Pferde trampeln keine Menschen tot. Und sie bieten uns ein wenig Deckung vor den Kugeln.
Das Wäldchen am anderen Rand der Koppel verspricht Rettung. Vorerst. Ein Birkenhain, kaum dicht genug, um uns wirklich zu verstecken. Ich habe ihn fast erreicht, als ich hinter mir einen Aufschrei höre.
Ich drehe mich um und sehe Gerhard stolpern und auf Hände und Knie fallen. Die Pferde rasen in blinder Panik an ihm vorbei und versperren mir die Sicht.
„Gerhard", rufe ich und suche nach einer Lücke zwischen den dahinstiebenden Hufen, um zu ihm zu gelangen.
Wilhelm rauscht an mir vorbei und erreicht bereits die ersten Baumstämme. Ich achte nicht auf ihn, sondern renne zu Gerhard, wobei ich auf den Knien über den weichen Wiesenboden schlittere. Gerhard versucht, sich aufzurichten. Er sieht bleich aus, sein Gesicht ist schmerzverzerrt.
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Am Ende dieses Jahres
Teen FictionMit 16 in den Krieg. Schlesien 1945: Uhrmacherlehrling Anton Köhler würde lieber eine Geige in der Hand halten statt eine Waffe. Doch als um Neujahr 1945 die Rote Armee seinem Heimatort immer näher rückt, wird er zusammen mit seinen Altersgenossen a...