Kapitel 20

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Als wir am nächsten Morgen das Haus verlassen, liegt ein blutigroter Schleier über Teilen des östlichen Horizonts, obwohl es taghell ist. Heute ist Aschermittwoch, der 14. Februar, aber an Faschingfeiern denkt keiner. In der Nacht hat es schwere Luftangriffe auf Dresden gegeben und die Innenstadt soll noch immer lichterloh brennen. Es ist ein schauerlicher Glanz und es beunruhigt mich, dass wir ihn sogar hier noch sehen können.

Der Schneematsch spritzt unter unseren Füßen, als wir die Straße hinunter traben, in Richtung Straßenbahnhaltestelle.

„Hallo, ihr zwei!" Die Stimme, die uns von hinten zuruft, lässt mich sofort innehalten.

Gerhard stößt mich mit dem Ellbogen leicht in die Seite und grinst, während wir warten, bis Luise zu uns aufgeschlossen hat. Ich ignoriere ihn.

„Seid ihr auch auf dem Weg zur Bahn?", fragt sie. Ihre Wangen sind von der feuchtkalten Luft gerötet und sie hat sich die Wollmütze tief in die Stirn gezogen, sodass nur ihre blonden Zöpfe darunter hervorlugen.

„Ja", sagt Gerhard und mir wird bewusst, dass ich mit der Antwort zu lange gezögert habe.

Wir laufen gemeinsam weiter die Straße hinunter und biegen in den Park ein, in dem wir uns gestern getroffen haben, schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Ich laufe in der Mitte, zwischen Gerhard und Luise. Schließlich stupst Gerhard mich von links an. Ich wende mich zu ihm um und er schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen auffordernd an. Sein Blick sagt so etwas wie ‚Jetzt mach schon, rede mit ihr.' Aber ich habe mich wieder in einen stummen Stockfisch verwandelt — mir fällt nichts ein.

„Wohin geht ihr eigentlich?", fragt Luise schließlich.

„Ähm ...", antworte ich aufgeschreckt. „Zum Rathaus. Um uns zu melden."

Sie nickt. „Ach so."

„Die Bahn fährt doch bis zum Hauptbahnhof, oder?", frage ich.

„Ja. Und von dort ist's nicht weit. Am besten geht ihr über den Augustusplatz."

„Ich habe immer noch kein gutes Gefühl bei der Sache", murmelt Gerhard. „Wenn es stimmt, was dein Onkel sagt..."

„Das hatten wir doch schon", sage ich ungeduldig, „uns bleibt nichts anderes übrig."

Luise schaut neugierig von einem zum anderen. „Was sagt er denn? Dein Onkel?"

„Ach nichts", wiegele ich ab.

Sie wendet sich ab.

„Weißt du, die Sache ist die ...", fängt Gerhard an. Ich werfe ihm einen bösen Blick zu, doch er lässt sich nicht beirren. „Wenn wir uns melden, dann sind wir wieder auf deren Radar."

„Was heißt das?", fragt sie.

„Wir werden bald sechzehn", sagt Gerhard, bevor ich ihn zurückhalten kann, „und sein Onkel meint, es wäre wahrscheinlich, dass sie uns zum Wehrdienst einziehen ..."

Ich halte die Luft an, als mir mein Gespräch mit Luise im vergangenen Sommer wieder einfällt. Was, wenn sie immer noch so denkt wie damals?

„Das ist doch gut", sage ich rasch. „Fürs Vaterland kämpfen und so ..."

Gerhard hebt eine Augenbraue.

Luise runzelt die Stirn. „In unserer Schule haben sie schon vor einer Weile alle Obersekundaner und höhere Jahrgänge zum Flakdienst einberufen."

„Ja", sage ich, „meinen Bruder Helmut auch."

Eine Weile laufen wir alle schweigend weiter.

„Was passiert, wenn ihr euch nicht meldet?", fragt Luise auf einmal und dreht ihren Zopf in einer Hand.

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt