In Liegnitz stehen keine Güterzüge für uns bereit. Wir müssen weiter zu Fuß durch die Kälte marschieren, genau wie die unzähligen Flüchtlinge, denen wir immer wieder auf der Straße begegnen. Acht Tage habe ich gezählt, seit wir aus Breslau aufgebrochen sind. Ein Tag unterscheidet sich kaum vom nächsten ... es gibt nur noch vor dem Häftlingszug, und danach.
Ich habe schon lange keine frische Wäsche mehr, und trotz der Lappen, die ich mir um die Füße gewickelt habe, muss ich sie am Ende jedes Marschtags eine halbe Stunde oder länger an ein Feuer halten und massieren, bis ich meine Zehen wieder spüre. Ich fühle mich müde und ausgelaugt ... nicht so sehr vom Marsch — das Wandern bin ich gewöhnt —, sondern von der ständigen Angst vor Tieffliegern und Bomben, und von den Gedanken, die in meinem Kopf kreisen.
Immer wieder stelle ich mir die gleichen Fragen: Bin ich feige? Hätte ich auch protestieren müssen, wie Drechsler es getan hat? Dann wäre ich jetzt wahrscheinlich auch tot ... Ich kann gar nichts tun, ich als Einzelner.
Ich hole Vaters Taschenuhr aus meiner Manteltasche, die ich jeden Tag aufziehe. Die kleinen Zeiger wandern unbeirrt über das Ziffernblatt und ich streiche mit dem Daumen über die Inschrift auf dem Deckel, spüre die dünnen Linien unter meiner Fingerkuppe. „Am Ende ist jeder nur seinem eigenen Gewissen verpflichtet, Anton", höre ich Vaters Stimme sagen und in diesem Moment steht er mir wieder ganz deutlich vor Augen obwohl die Erinnerung schon manchmal verblasst.
Ich umschließe die Uhr in meiner Faust. Es gibt nur eines, das ich tun kann. Mich verweigern. Nicht mitmachen bei diesem Wahnsinn. Und wenn sie uns Waffen in die Hand drücken — ich werde sie niemals gegen einen anderen Menschen einsetzen. Wir haben schon so viel Schuld auf uns geladen. Ich will nicht auch noch dazu beitragen. Es ist vielleicht unbedeutend ... ob ich es nun tue oder nicht ... die Dinge passieren trotzdem. Aber wenigstens habe ich mir dann nichts vorzuwerfen.
Die Frage ist nur, ob ich mutig genug bin, mich daran zu halten.
* * *
Am Abend erreichen wir Bautzen. Wir haben noch immer keine Ahnung, was unser Endziel ist. Aber solange es weiter nach Westen geht und ich damit Leipzig näherkomme, kann ich mich damit abfinden.
Diese Nacht verbringen wir in einem großen Flüchtlingslager bei Bautzen. Ein Gymnasium wurde dafür hergerichtet, Hunderte von Menschen aufzunehmen, und uns schickt man in die Turnhalle. Auf dem ganzen Boden wurden Strohlager verteilt und dünne Militärdecken darüber gebreitet. Ein Kanonenofen in der Ecke vermag die große Halle kaum zu erwärmen. Dafür stehen mehrere Gulaschkanonen bereit, an denen wir uns eine warme Mahlzeit abholen können. Mit unserem Kochgeschirr lassen wir uns auf die Lager sinken und essen schweigend.
Unser Oberleutnant, Schwarz heißt er, betritt die Turnhalle und baut sich in der Mitte auf, sodass alle ihn sehen können. Mit seiner ruhigen Stimme, bei der wir uns anstrengen müssen, sie zu verstehen, sagt er: „Jungs, es sind endlich Züge bereitgestellt worden. Morgen früh steigt ihr alle in einen Güterzug, der euch zu eurem Einsatzort bringen wird." Er blickt fast bedauernd über die versammelten Jungen.
Stille begegnet dieser Ankündigung, während seine Worte zu uns durchsickern. Damit hat keiner gerechnet. Einsatzort? Geht es an die Front?
„Unsere Truppen in Tschechien um General Schörner benötigen Verstärkung", fährt Schwarz fort und atmet einmal tief ein und aus. „Ihr seid alle zum Arbeitsdienst abkommandiert. Ihr sollt unseren Truppen bei den Abwehrmaßnahmen helfen. Deshalb werdet ihr morgen nach Tschechien gebracht. Eine genauere Ortsangabe kann ich momentan nicht machen, denn die Front verändert sich jeden Tag."
Schörner. Der Name allein ruft eine Gänsehaut hervor. Und aus den Gesichtern meiner Kameraden lese ich, dass ihnen ähnliche Gedanken durch den Kopf gehen. Schörner ist dafür bekannt, seine Soldaten in ausweglose Situationen zu schicken; für ihn existiert das Wort Rückzug nicht, und Kapitulation schon gar nicht.
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Am Ende dieses Jahres
Teen FictionMit 16 in den Krieg. Schlesien 1945: Uhrmacherlehrling Anton Köhler würde lieber eine Geige in der Hand halten statt eine Waffe. Doch als um Neujahr 1945 die Rote Armee seinem Heimatort immer näher rückt, wird er zusammen mit seinen Altersgenossen a...