Wir lehnen uns beide gegen den Stamm. Meine Knie zittern und am liebsten würde ich nach unten in den Schnee sinken und auf der Stelle einschlafen. Aber ich zwinge mich, auf den Beinen zu bleiben und luge um den Stamm herum. Das Gleisbett ist von hier aus bereits nicht mehr zu sehen, verdeckt hinter den Bäumen. Unser Glück. Scheinbar ist uns keiner auf den Fersen. Noch nicht.
„Was jetzt?" fragt Gerhard schnaufend.
„Weiter", sage ich nur. „Kannst du laufen?"
Gerhard tritt mit dem rechten Fuß zaghaft auf den Boden. Sein Gesicht verzieht sich schmerzhaft. „Wird schon gehen, nur beim Sturz ein wenig verdreht. Aber was ist mit dir?"
Ich schaue ihn verständnislos an.
„Du blutest ..." Er zeigt auf meine linke Hand.
Ich bin völlig überrascht, als ich sehe, dass sie tatsächlich von gefrorenem Blut überströmt ist. Der Schmerz in meinem kleinen Finger fällt mir wieder ein. Ich betrachte die Stelle — ein kleiner hartkantiger Metallsplitter hat sich in meine Fingerkuppe gebohrt. Seltsam, jetzt tut es gar nicht mehr weh. Gerhard kramt schon nach seinem Verbandspäckchen, aber ich winke ab.
„Lass uns mal lieber erst von hier verschwinden."
„Wohin?"
Ich versuche mich zu orientieren. Am östlichen Horizont kriecht die erste blassrote Helligkeit herauf. Ich deute in die entgegengesetzte Richtung, nach Westen. Wir setzen uns in Bewegung. Gerhard verzieht bei den ersten Schritten noch schmerzhaft das Gesicht, trotzdem folgt er mir im halben Laufschritt. Wer weiß, wann sie die Kettenhunde von den Leinen lassen, denke ich.
Im Wald, abgeschirmt von den dichten Kronen der Nadelbäume, bleibt es noch lange düster. Ich lausche angestrengt auf alle Geräusche um uns herum. Der winterstille Wald erwacht gerade ... die ersten Vögel zwitschern, sonst hört man nur das Knirschen unserer Schritte im Schnee und das gelegentliche Knacken eines Kiefernzapfens unter unseren Füßen.
Eine rasche Bewegung vor uns lässt mein Herz kurz stocken, es raschelt im Unterholz und dann sehe ich das davonspringende weiße Hinterteil eines Rehs, den Schwanz in die Höhe gestreckt. Ich komme mir selbst vor wie ein aufgeschrecktes Reh, auf der Flucht vor den Jägern.
Wir laufen weiter, immer weiter, um so viel Entfernung wie nur möglich zwischen uns und den Zug zu bringen. Hinter mir flucht Gerhard. Ich drehe mich um. Sein rechtes Bein steckt bis zum Knöchel in einer Schneewehe und als er versucht, es herauszuziehen, stürzt er nach vorn in den Schnee. Ich helfe ihm auf, doch ich sehe, dass er mit dem Fuß nicht mehr auftreten kann, obwohl er sich bemüht, keine Miene zu verziehen.
„Lass uns eine kurze Pause machen", sage ich. „Ich glaube, wir sind schon ziemlich weit gekommen."
Er stützt sich auf meine Schulter und humpelt zum dicken Stamm einer alten Fichte, an deren Südseite der Schnee vom Wind fortgeweht worden ist. Hier können wir eine Weile bleiben, ohne gleich gesehen zu werden, falls uns jemand gefolgt ist. Dann fallen mir die Fußspuren ein, die wir hinterlassen haben und ich greife mir an die Stirn. Wenn sie die finden, dann nützt alles nichts. Trotzdem, eine Pause brauchen wir.
Ich ziehe Gerhard vorsichtig den Stiefel aus und wickle die Lappen ab, um seinen Knöchel in Augenschein zu nehmen. Er ist ein wenig geschwollen. Als ich seinen Fuß vorsichtig bewege, kneift er den Mund zusammen.
„Ist bestimmt nur verstaucht, oder verdreht", sagt er. „Das hatte ich schon mal nach dem Fußballspielen, weißt du noch? Als Herbert mich so umgerempelt hat." Der Schnee hilft, den Knöchel zu kühlen. Mehr kann ich momentan nicht tun.
Dann genehmigen wir uns jeweils eine Tafel Schokolade aus unserer Notration. Es knackt laut, als ich ein Stück der kalten Tafel abbeiße. Die Schokolade wärmt von innen und hat einen beruhigenden Effekt. Erst jetzt bemerke ich das Zittern in meinem Inneren, das nicht von der Kälte stammt, sondern von der Anspannung. Nachdem ich eine Handvoll Schnee gegessen habe, um meinen Durst zu stillen, fühle ich mich etwas wohler.
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Am Ende dieses Jahres
Teen FictionMit 16 in den Krieg. Schlesien 1945: Uhrmacherlehrling Anton Köhler würde lieber eine Geige in der Hand halten statt eine Waffe. Doch als um Neujahr 1945 die Rote Armee seinem Heimatort immer näher rückt, wird er zusammen mit seinen Altersgenossen a...