Kapitel 38

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Die Nacht im Lager ist unerträglich lang. Einige Soldaten sitzen um ein Feuer und saufen. Ich halte mich abseits, kann aber trotzdem nicht schlafen. Es kommt mir vor, als hätte der Tag, der hinter mir liegt, mehrere Jahre gedauert. Dabei waren es nur wenige Stunden ... Stunden, in denen sich alles verändert hat ... Stunden, die mir kaum Raum zum Nachdenken gelassen haben. Ich kann nicht begreifen, dass Gerhard heute morgen noch da war, und jetzt nicht mehr.

Schließlich mache ich mich auf in den Wald, unter dem Vorwand, austreten zu müssen. Ich will allein sein, fort von dem Lärm des Lagers und den viel zu fröhlichen Stimmen. Obwohl kein künstliches Licht mir den Weg weist, bewegen sich meine Füße wie von selbst über die Steine und Wurzeln am Waldboden. Langsam verklingen die Stimmen und ich höre nur noch die Geräusche des nächtlichen Waldes. Das Rascheln der Bäume im Wind, das leise Knacken im Unterholz, das auf irgendein nachtaktives Tier hinweist, den Ruf eines Käuzchens.

Dann sehe ich im Mondschein das silbern schimmernde Band eines kleinen Baches vor mir, der durch den Wald gluckert. An einer unbewachsenen Uferstelle knie ich mich hin und halte meine Hände in das kalte, klare Wasser. Ich habe immer noch das Gefühl, dass Gerhards Blut an ihnen klebt, und fange an, sie im Wasser aneinander zu reiben. Mit der linken Hand schrubbe ich meine rechte, die im eiskalten Wasser langsam taub wird. Doch das reicht nicht aus. Ich ziehe meine Hand über die kleinen Kiesel am Grund des Baches. Sie sind rund gewaschen und es tut nicht genug weh. Es soll weh tun! Deshalb scheuere ich mit dem Handrücken über einen rauen Stein am Uferrand, bis meine Knöchel brennen und sich kleine Hautfetzen davon ablösen.

„Was machst du da?"

Ich schrecke zusammen. Wilhelm steht hinter mir; ich habe ihn gar nicht kommen gehört. Er ist die letzte Person, die ich momentan sehen will.

„Hau ab, Braun." Meine Stimme hört sich so müde und unbeteiligt an, dass ich mich wahrscheinlich selbst nicht ernst nehmen könnte. Wilhelm jedenfalls tut es auch nicht. Er steht immer noch vor mir und schaut auf mich herab.

„Was machst du da?", wiederholt er.

„Meine Hand waschen. Sie ist voller Blut."

„Das liegt aber nur an deiner komischen Art, sie zu waschen", meint Wilhelm.

Ich betrachte meine blutigen Knöchel. „Hau ab", sage ich noch einmal.

„Zwing mich doch", sagt Wilhelm und setzt sich auf einen der Felsen neben mir. „Ich kann hier genauso sitzen wie du."

Ich merke, wie wieder Wut in mir aufsteigt, und habe kurz Lust, ihn wirklich in die Flucht zu schlagen, aber dann ist es mir doch wieder egal. Ich lege die andere Hand auf meine wund gescheuerten Fingerknöchel und drücke sie an die Brust.

„Große Töne spucken konntest du schon immer", sage ich ohne viel Energie.

„Und du warst schon immer ein Mädchen", sagt Wilhelm, ebenfalls ohne großen Nachdruck.

Ich bringe nicht einmal mehr die Kraft auf, mich davon provozieren zu lassen. „Was willst du, Braun? Warum folgst du mir ständig wie ein verlorener Hund?"

„Ich dir folgen?", spuckt Wilhelm aus und eine Spur der alten Arroganz liegt in seiner Stimme. „Als ob ich das nötig hätte! Ich hab dich da rausgezogen, schon vergessen? Hätte ich dich auch da liegenlassen und verrecken sollen wie ...?"

„Halt den Mund", schreie ich. „Wenn einer dort liegen sollte, dann du. Du wolltest doch so unbedingt mitmachen. In diesem Scheiß Krieg ... Fürs Vaterland und so weiter. Konntest es gar nicht erwarten, dich freiwillig zu melden."

Wilhelm bleibt still. Im Mondlicht, das vom Wasser reflektiert wird, sehe ich, dass seine Nasenflügel beben. Ich starre wieder auf das Wasser und tauche meine geschundene Hand hinein, um sie zu kühlen. Es hat nicht geholfen. Der körperliche Schmerz hat den seelischen nicht ausgelöscht.

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt