Epilog

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Der Silvesterabend ist eine ruhige, klare Nacht. Meine Geschwister sind schon in die Betten geschlüpft, obwohl es noch nicht Mitternacht ist. Noch hat das neue Jahr nicht begonnen.

Ich trete nach draußen in den Garten. Die kalte Winterluft und die Dunkelheit umhüllen mich, doch obwohl ich keine Jacke trage, ist mir nicht kalt, wenn ich die Hände in den Hosentaschen vergrabe. Ich lehne mich gegen den Gartenzaun und lege den Kopf in den Nacken, um die Tausenden und Abertausenden funkelnden Lichter zu betrachten. Mein Blick verliert sich in dieser unglaublich endlosen Weite der Milchstraße, die sich wie ein seidiges Band über den Himmel schlängelt.

Vielleicht, denke ich plötzlich, wird ja jeder Mensch nach seinem Tod zu einem solchen Stern. Der Gedanke ist natürlich lächerlich. Trotzdem suche ich nach einem Stern, der für mich wie Gerhard aussieht. Ich finde ihn ... dort oben, unter der Kassiopeia ... er funkelt mich besonders verschmitzt an und hat einen warmen gelblich-orangenen Farbton. Ich beschließe, mir seine Position und Helligkeit zu merken.

Die Kirchturmuhr in der Nähe schlägt Zwölf. Das Jahr 1946 ist angebrochen. Ein Feuerwerk gibt es nicht ... die Menschen haben in den letzten Jahren genug Explosionen erlebt.

Vor einem Jahr, an Silvester, hat es angefangen ... Damals war ich noch in Breslau, Hunderte Kilometer entfernt. Dann haben sie mich meiner Familie entrissen, in die Kaserne gesperrt und zu Sklaven für den verdammten Krieg gemacht — sie, die jetzt nicht mehr an der Macht sind und von denen bald nichts mehr übrig sein wird als ein schwarzer Fleck in der Geschichte Deutschlands. Sie sind auch schuld an Gerhards Tod, und an Augusts ...

Der Brief von Augusts Mutter fällt mir wieder ein. Ich war total überrascht, als Mutter ihn mir Heiligabend überreicht hat. Überrascht und nervös. Hasst sie mich jetzt, macht sie mich für alles verantwortlich? Aber dann war der Brief ganz anders als erwartet.

Lieber Anton, schrieb sie, haben Sie vielen Dank für Ihren herzlichen Brief! Wir können kaum in Worte fassen, wie viel es uns bedeutet hat, zu wissen, dass unser August nicht allein gestorben ist, dass Sie für ihn da gewesen sind, auch wenn wir es nicht konnten. Ich weiß, dass unser August Sie immer bewundert hat und so sein wollte wie Sie — und damit hat er sicher recht gelegen. Sie müssen sich überhaupt keine Schuld geben. Vielleicht hat Gott ihn zu sich geholt, damit er die schrecklichen letzten Monate des Krieges nicht mehr miterleben musste. Es ist uns ein Trost, zu wissen, dass sie seine Erinnerung lebendig erhalten werden. Wir wünschen Ihnen alles erdenklich Gute!

Ich muss auch jetzt wieder hart schlucken, wenn ich daran denke. Was für ein Stein mir vom Herzen gefallen ist ... ich wusste gar nicht, dass er dort gelegen hat, bis sich das Gewicht löste.

Aber jetzt, mit diesem neuen Jahr, fängt ein neues Leben an.

Ich bin es Gerhard ... und mir selbst schuldig, dass ich das Beste daraus mache ... aus diesem neuen Leben. Es ist noch unbekannt und fremd und ich kann mir noch nicht genau vorstellen, wie ich es bewerkstelligen soll. Aber wenn jetzt nicht die Zeit ist, meine Träume zu verfolgen, wann dann?

Ich habe überlebt! Ich habe den Krieg überstanden, und ich bin über die Elbe geschwommen. Wenn ich das geschafft habe, dann kann ich alles schaffen. Nicht wahr?

Ich hole die Taschenuhr heraus und klappe den Deckel auf. Die filigranen Zeiger bewegen sich unermüdlich weiter und zeigen die Uhrzeit an ... fünf nach zwölf. Als ich das kühle Metall in meiner Handfläche fühle, reift ein Plan in meinem Kopf heran.

Ich werde arbeiten gehen und Geld verdienen, wie ich es Luise gesagt habe. Von dem Geld werde ich ein wenig sparen und mir irgendwann davon eine eigene Geige kaufen und Musikunterricht nehmen. Ich werde so lange üben, bis ich endlich so gut bin, wie ich es gern sein würde. Wenn nötig, die ganze Nacht hindurch. Und nebenbei kann ich die Abendschule besuchen, um mein Abitur nachzuholen, und Luise wird mir dabei helfen.

Es sind große Pläne. Aber wenn ich so in den nächtlichen, blinkenden Sternenhimmel schaue, überwältigt mich ein neues Gefühl der Freiheit und Unbegrenztheit. Als wäre alles möglich. Fast glaube ich, mich in den Himmel hineinstürzen zu können.

Der Stern, den ich für Gerhard ausgesucht habe, blinkt mir freundlich zu, als wollte er sagen. „Ja, genau, jetzt ist der Groschen endlich gefallen, alter Junge."

* * *

Vielen Dank fürs Lesen! Ich hoffe, die Geschichte konnte euch einen kleinen Einblick in unsere Vergangenheit geben. Ich für meinen Teil bin jedenfalls sehr dankbar dafür, dass wir momentan in Frieden leben.

Weitere Hintergrundinformationen zur Geschichte gibt es auf: www.anjamay.de

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt