Kapitel 34

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Ich halte die Luft an. Der Russe ist aus dem Gebüsch rechter Hand herausgebrochen. Sein Gesicht ist rußgeschwärzt. Trotzdem erkenne ich, dass er jung sein muss. Nicht älter als wir. Er erstarrt, als er uns sieht, und blickt uns mit angsterfüllten Augen an. Er trägt einen Karabiner, hat ihn aber nicht auf uns gerichtet. Auch mein Gewehr hängt unbeachtet auf meiner Schulter.

Wir starren uns einige endlose Sekunden lang in die Augen. Sein Blick wandert von mir zu Gerhard, der sich das verbundene Bein hält und keucht. Dann kommen irgendwelche Klänge aus der Kehle des jungen Russen. Klänge in einer Sprache, die ich nicht kenne, die kehlig und abgehackt klingt.

Ich hebe ganz langsam die Hände. Mein Atem geht flach und mein Herz schnell. „Wir tun dir nichts, wenn du uns auch nichts tust", sage ich und versuche, meine Stimme ruhig klingen zu lassen.

Der Russe sagt wieder etwas Unverständliches. Dann zieht er sich zurück, auf dem Weg, den er gekommen ist, ohne seine Waffe zu heben. Doch er behält uns dabei im Auge. Ich rühre mich nicht. Er ist fast wieder in dem Gebüsch verschwunden, als ein Schuss ertönt. Im nächsten Moment fällt der junge Russe in sich zusammen wie eine liegengelassene Marionette.

„Neiiin", schreie ich und schaue mich nach dem Schützen um.

Doch ich kann mich nicht um den Russen kümmern, wir müssen weiter. Außerdem weiß ich im tiefsten Herzen, das es sinnlos ist. Bevor er umgeknickt ist, habe ich noch dieses hässliche kleine Loch in seiner Stirn sehen können.

Mit Kräften, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie habe, lade ich Gerhard erneut auf meinen Rücken und stapfe voran. Ein Fuß vor den anderen. Kugeln pfeifen um uns herum und schlagen ein, aber ich laufe einfach weiter und hoffe auf ein Wunder. Ich habe keine Ahnung, in welche Richtung ich gehe, habe vollkommen die Orientierung verloren. Ich will mich nur von dem Schlachtlärm entfernen, sonst nichts, nur raus aus dieser Hölle.

Gerhards Arme klammern sich fest um meine Brust und ich kämpfe damit, Luft zu holen. Bei jedem Schritt wird die Last schwerer und meine Beine heben sich etwas weniger vom Boden ab. Trotzdem schleppe ich mich voran.

„Anton", höre ich Gerhard nah an meinem Ohr mit schwacher Stimme flüstern. „So kommst du nicht weit... Du musst mich absetzen."

Ich ignoriere ihn. Selbst wenn ich eine Antwort hätte geben wollen, könnte ich es nicht, denn jeder Quadratzentimeter meiner Lungen scheint zu brennen und ich brauche meine gesamte Luft, um weiter atmen zu können.

„Das schaffst du nicht."

„Hör ... auf", stoße ich hervor, nun doch wütend genug, um die nötige Luft zu finden. Aber meine Beine werden schwerer und schwerer und mein Griff löst sich immer wieder.

Nur noch ein paar Hundert Meter, dann haben wir das Wäldchen durchquert. Was wartet dahinter?

Wilhelm und einige andere Deutsche kommen uns plötzlich wieder entgegen. Bin ich in die falsche Richtung gelaufen?

„Die kommen auch von Westen. Sie haben uns eingekreist", brüllt Wilhelm.

Meine Beine geben nach. Ich kann nur noch versuchen, Gerhard so behutsam wie möglich neben mir zu Boden sinken zu lassen. Ich habe nicht mal mehr die Kraft, Wilhelm an den Kopf zu werfen, dass er ein feiger Hund ist.

Wohin jetzt? Mein Kopf ist wie leergefegt.

„Ihr habt keine Wahl", sagt Gerhard. „Ihr müsst ohne mich weiter. Dann könnt ihr euch schon durchschlagen."

Seine Worte treiben mich wieder an, weil sie den Ärger erneut in mir aufflackern lassen.

„Los, hilf mir", schreie ich Wilhelm an. Er zögert merklich, blickt sich um, und wirkt, als würde er gleich lossprinten wollen ... in irgendeine Richtung.

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt