Kapitel 4

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Der Winter ist über Schlesien hereingebrochen. Und nicht nur der! Wir haben unseren Ruf als Reichsluftschutzkeller nun endgültig verloren. Seit Oktober fallen auch hier die Bomben. Nun fahren die Züge nur noch nachts und man muss besonders darauf achten, nach Einbruch der Dämmerung die Verdunkelungsrollos nach unten zu ziehen.

Aber heute denken wir nicht daran. Denn es ist Weihnachten, das fünfte Kriegsweihnachten. Draußen ist es ganz still. Es hat geschneit. Hinter dem Rollo glitzert die weiße Decke im fahlen Mondlicht und erhellt die Nacht. Keine Laterne brennt, kein Kerzenschein dringt durch die Fenster der Nachbarshäuser nach draußen. Aber in unserer Wohnstube leuchtet der Baum.

Ich bin mit den Zwillingen Max und Fritz im Wald gewesen, um eine hübsche kleine Fichte zu fällen, die wir nach Hause geschleift haben. Mutter und die Mädchen haben Strohsterne an die Zweige gehängt und ein paar wenige Kerzen angesteckt. Sie werden nicht lange brennen dürfen, denn Wachs ist knapp, wie alles andere auch. Trotzdem sind meine Geschwister von dem Anblick entzückt. Als sie in die Stube dürfen, klatschen sie in die Hände. Erich kräht begeistert. Wir singen alle gemeinsam Stille Nacht und dann Kling Glöckchen. Mutter hat das gerahmte Foto von Vater auf den Sofatisch gestellt, damit er heute auch bei uns sein kann.

»Warum ist denn Helmut nicht da?«, fragt Lieschen, als der letzte Ton verklungen ist. Bestimmt hat sie auch daran gedacht, wie er uns jedes Jahr auf der Violine begleitet hat. Helmut, mein älterer Bruder, ist vor einiger Zeit als Flaksoldat zur Flugabwehr nach Westdeutschland abkommandiert worden.

»Er ist an der Front unabkömmlich«, sage ich.

»Was heißt unabkömmlich?«, fragt Max.

»Das heißt, dass er zu wichtig ist und sie nicht auf ihn verzichten können.« Als ich das traurige Gesicht meiner Schwestern sehe, füge ich hinzu: »Aber dafür ist ja Gerhard hier.«

»Jaaa«, Lieschen hängt sich an Gerhards Bein.

Gerhard gehört schon fast zur Familie. Er ist so alt wie ich und wir sind zusammen zur Schule gegangen. Als er noch im Waisenheim am Stadtrand lebte, war er fast jeden Tag bei uns zu Besuch. Mutter und Vater haben sich wohl gesagt, dass es auf ein Kind mehr oder weniger auch nicht ankommt. Jetzt arbeitet Gerhard als Knecht bei Bauer Moltke, der ihm für heute frei gegeben hat.

Mit einem Wink auf die Geschenke unter dem Baum lenke ich meine Schwestern von weiteren Fragen ab. Die Kleinen stürzen sich auf die Päckchen. Ich beobachte sie von Vaters abgenutztem Ledersessel aus und staune, was Mutter alles aufgetrieben hat. Und sei es auch nur eine Handvoll Haselnüsse und eine Häkelmütze, für jedes Kind ist etwas dabei. Fritz freut sich über das Schnitzmesser, das ich ihm vermacht habe.

Ich erwarte kein Geschenk. Daher bin ich doppelt überrascht, als Lotta mit strahlendem Gesicht zu mir und Gerhard rennt und uns beiden ein in braunes Papier gewickeltes Päckchen überreicht, das von einer einfachen Hanfschnur zusammengehalten wird. Gerhard und ich tauschen einen Blick aus. An der Form und Weichheit kann ich schon erraten, dass etwas Gestricktes darin sein wird. Gerhard packt sein Paar dicker Socken aus grober, grauer Wolle zuerst aus und strahlt wie jemand, der soeben das schönste Geschenk der Welt bekommen hat.

»Die sind echt dufte, Frau Köhler!«

Mutter lächelt. »Die Wolle hat mir der Bauer gegeben, bedank dich bei ihm. Ich dachte mir, ihr beiden könnt dicke Socken gut gebrauchen. Der Winter soll hart werden, hat die alte Frau Weber prophezeit. Und ihr wisst ja, ihr Zipperlein hat fast immer recht.«

Ich packe mein eigenes Paar aus und falte sie auseinander. Dabei blitzt mir etwas entgegen, das zwischen den beiden Socken gelegen hat. Neugierig ziehe ich das Objekt heraus.

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt