Als wir am nächsten Morgen zu unserem Einsatzort fahren, sehen wir bereits, was der Evakuierungsbefehl ausgelöst hat. Massen von Menschen wälzen sich über die Straßen Breslaus. Die Eisenbahnen, die an uns vorüberzuckeln, sind hoffnungslos überfüllt. Viele Menschen halten sich sogar außen an den Geländern der Waggons fest.
Hat Mutter es noch auf einen dieser Züge geschafft? Wenn ich doch nur eine Nachricht von ihr hätte.
Wir fahren bis zur Schanzstellung und beginnen unser Tageswerk. Die körperliche Arbeit und der Schock, der mir noch immer in den Gliedern setzt, lassen mein Gehirn glücklicherweise aussetzen. Während wir Gräben schaufeln, denke ich an nichts. Nur ab und zu blitzt eine Erinnerung in meinem Geist auf ... August, wie er wenige Meter neben mir steht und den Spaten hebt ... Dann sehe ich ihn wieder im Bett liegen, so still und friedlich ... Vor meinem geistigen Auge verschwimmt sein Gesicht mit dem meines Bruders Frank und die Sorge um meine Familie kehrt wieder zurück.
Ich stoße den Spaten mit Wucht in die harte Erde und reiße ihr einen Klumpen nach dem anderen aus dem Leib. Die Kälte ist heute so extrem, das mir gar nicht richtig warm wird; sie beißt mir bei jedem Atemzug in die Nase und der gleißende Schnee treibt mir Tränen in die Augen.
Willi erzählt uns am Abend, dass der Zugverkehr nun ganz eingestellt wurde und die meisten, die bis jetzt noch keinen erwischt haben, zu Fuß losziehen müssen. Es herrschen Temperaturen um die zwanzig Grad unter Null. „Viele von ihnen werden den Marsch wahrscheinlich nicht überleben", sagt er grimmig. „Besonders die Kinder und Alten."
„Was wird nun aus ...?", fragt Gerhard und schluckt.
„Ich habe an Augusts Eltern telegrafiert", sagt Willi. „Weiß nicht, ob sie das Telegramm überhaupt noch erhalten haben. Oder ob sie auch schon über alle Berge sind. Er wird morgen beigesetzt, hier auf dem Nordfriedhof. Ihr dürft natürlich alle dabei sein, hat der Hauptmann schon verkündet." Willi stößt einen schweren Seufzer aus. „Vielleicht könnt ihr ja noch ein paar Zeilen an die Mutter schreiben. Das wäre was. Besser als so'n Telegramm."
Am Abend knacken die Holzscheite in unserem Ofen und bringen ein klein wenig Wärme in die frostige Stube. Mir kommt es so vor, als wäre eine Ewigkeit vergangen, seit ich letzte Nacht an Augusts Bett saß. Außer dem leisen Knistern der Flammen ist es still in unserer Stube. Alle sitzen oder liegen auf ihren Lagern und starren trübselig vor sich hin oder blättern einem Heftchen.
Herbert kritzelt auf einem Blatt Briefpapier, seine Stirn ist in tiefe Furchen gelegt. Als er fertig ist und den Bleistift aus der Hand legt, bitte ich ihn um einen Bogen Papier und setze mich damit an den Tisch. Dann starre ich ratlos auf das weiße Blatt vor mir. Was soll ich schreiben? Was habe ich schon zu sagen, das seine Eltern trösten könnte?
Ich setze mehrmals den Stift an und lasse ihn wieder sinken. Schließlich beschließe ich, dass ich nichts weiter tun kann, außer ihr von August zu erzählen, so wie ich ihn kannte.
Sehr geehrte Frau Hubrich,
ich möchte Ihnen gern von Ihrem Sohn erzählen. Letzte Nacht habe bei ihm gesessen, als es kritisch war. Ich glaube, er war froh darüber, auch wenn er die meiste Zeit geschlafen hat.
Ich habe ihn schon in der Schule sehr gern gehabt. Wussten Sie, dass er immer heimlich unter der Bank Gedichte auf Papierfetzen geschrieben hat, wenn der Lehrer nicht hinsah? Er wäre bestimmt mal ein großer Dichter geworden. Wir haben ihn alle sehr gern gehabt, auch wenn er nicht der schnellste Läufer und stärkte Boxer war. In einem Fußballspiel im Sommer war er ein echter Held, da hat er einen Elfmeter mit seinem Gesicht abgeblockt. Dabei ist seine Brille kaputt gegangen und seine Nase war ganz blutig. Aber er hat sich nur stolz umgeschaut und gefragt: „Hab ich ihn gehalten?"
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Am Ende dieses Jahres
Teen FictionMit 16 in den Krieg. Schlesien 1945: Uhrmacherlehrling Anton Köhler würde lieber eine Geige in der Hand halten statt eine Waffe. Doch als um Neujahr 1945 die Rote Armee seinem Heimatort immer näher rückt, wird er zusammen mit seinen Altersgenossen a...