Kapitel 6

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Mutter weint, als ich mit der Nachricht nach Hause komme. Ich weiß nicht, wie ich sie trösten soll. Wie soll ich denn jetzt auf sie und die Kinder aufpassen? Morgen muss ich schon fort. Es bleibt nur noch ein ganz kurzer Nachmittag daheim.

Bevor die Sonne verschwindet, sage ich zu Max und Fritz, dass ich noch einmal mit ihnen reden muss, von Mann zu Mann. Wir laufen gemeinsam zum Ufer der Oder hinunter.

Die beiden sind stiller als sonst, fast feierlich schreiten sie neben mir durch den Schnee, beide von ihren dicken Pudelmützen gegen den beißenden Wind geschützt, der um die Häuserecken pfeift.

Am Ufer streiche ich den Schnee von einem umgestürzten Baumstamm und lasse mich darauf nieder. Max und Fritz setzen sich auf je eine Seite. So hocken wir wie die Vögel dick aufgeplustert und eng aneinandergedrückt auf dem Stamm.

Ich schaue schweigend über die unebene Eisfläche des Flusses, die stellenweise mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt ist. Am gegenüberliegenden Ufer stehen schneebeladene Fichten, die vor dem Hintergrund des rot-glühenden Abendhimmels fast märchenhaft leuchten.

„Könnt ihr euch noch an euren Bruder Frank erinnern?", frage ich.

Bestimmt haben die beiden nicht mit dieser Frage gerechnet. Max zuckt mit den Schultern, aber Fritz nickt langsam.

„Er ist an einer Lungenentzündung gestorben, oder?", fragt Fritz mit gerunzelter Stirn.

Ich nicke und schaue wieder über den Fluss. „Vor fünf Jahren ... damals war ich so alt wie ihr jetzt ... bin ich mit Frank im Winter hierhergekommen. Die Oder war zugefroren, also sind wir ein bisschen schlittern gegangen."

Die Erinnerung kriecht in mir hoch wie die Kälte damals durch meine dünnen Schuhe. „Es gab Stellen im Eis, die dunkler aussehen als andere, so wie die da hinten. Das Eis auf Flüssen und Bächen gefriert nämlich ungleichmäßig stark, wegen der Strömungen. Ich habe zu Frank gesagt, er soll nah am Ufer bleiben, wo das Eis dick und fest ist. Aber Frank ist immer weiter auf die Mitte raus geschlittert. Auf einmal gab es einen großen Krach. Das Eis unter ihm war gesplittert."

Fritz und Max schauen mich atemlos an.

„Frank ist ins Wasser gefallen, aber er konnte sich am Rand des Eises festhalten. Ich habe mich flach auf den Bauch gelegt und ihm einen starken Ast hingehalten. Daran konnte er sich herausziehen. Aber er war nass bis auf die Knochen von dem eiskalten Wasser. Natürlich hätten wir sofort nach Hause gehen sollen ... Sind wir aber nicht."

„Warum nicht?"

„Weil wir dumm waren. Frank hatte Angst, dass Vater ihn ausschimpft. Deshalb sind wir erst noch eine Weile am Ufer auf- und ab gelaufen, bis seine Kleider wieder trocken waren. Es war bitterkalt und er zitterte wie Espenlaub."

Ich ziehe meine Nase hoch, die zu laufen droht. Auch wenn ich erst elf Jahre alt war, hätte ich als älterer Bruder besser auf Frank aufpassen sollen.

„Und dann?", fragt Fritz.

„Drei Tage später lag er mit Lungenentzündung im Bett."

Ich stehe auf und stelle mich vor meinen kleinen Brüdern auf, blicke in ihre Gesichter mit den glänzenden braunen Augen und roten Nasen.

„So, Männer, jetzt müsst ihr mir ganz genau zuhören. Alles klar? Ihr wisst ja, dass ich morgen wegfahre, um als Wehrmachtshelfer meine Pflicht zu tun. Das heißt, ihr seid ab jetzt die Männer im Haus! Ihr seid schon alt genug, um Mutter unter die Arme zu greifen. Hört auf sie und passt gut auf sie und eure kleinen Schwestern und Erich auf. Und macht nicht solche Dummheiten wie ich und Frank. Versprecht ihr mir das?"

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt