Kapitel 30

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Ich laufe und laufe. Meine Stiefel sind so schwer, als wären sie mit Blei gefüllt. Sie heben kaum vom Boden ab. Ich stapfe durch eine Art Morast, der mich mit seinen klebrigen Fingern festhält. Um mich herum graue Dunkelheit und undefinierbare Schattengestalten, die alle rennen wie ich. Ich drehe mich nach Gerhard um, der hinter mir läuft. Das Gesicht zu einer Fratze verzerrt, streckt er mir die Hand entgegen. Ich will auf ihn warten, ihn mitziehen. Doch die Distanz zwischen uns wird immer größer, obwohl er auf mich zurennt. Ich sehe, wie sein Mund sich zu einem Schrei öffnet, höre aber nichts. Ich höre überhaupt nichts. Dann zerreißt ein Schuss die unheimliche Stille.

Mit klopfendem Herzen fahre ich hoch. Stimmengewirr umgibt mich. Durch das Fenster, unter dem ich gelegen habe, fällt Mondlicht auf den Holzboden der Kammer. Gerhard hockt neben mir, ebenfalls aufgeschreckt. Ich habe den Schuss also nicht nur geträumt.

Mein Herz klopft noch immer wie wild, aber die Traumbilder verblassen bereits vor meinem inneren Auge. Die Tür wird aufgerissen. Eine dunkle Gestalt tritt ins einfallende Mondlicht. Ich erkenne den Mann nicht ... muss einer von der Nachtwache sein. Wir haben unser Nachtlager in einem verlassenen Dorf aufgeschlagen und mehrere Häuser besetzt. Unser Raum liegt im ersten Stock über einer Gastwirtschaft.

Der Mann ruft mit leiser, aber deutlicher Stimme: „Die Russen ..."

In dem Moment splittert das Fenster über mir. Ich schütze instinktiv meinen Kopf mit den Armen, als ein Scherbenregen auch mich niederprasselt.

„Alle man in Deckung", schreit Unteroffizier Blöm, unser Zugführer. „Zu den Waffen."

„Dieses Hundspack. Mitten in der Nacht", knurrt Wilhelm.

Ich ziehe meinen Stahlhelm auf und kauere mich rechts neben das Fenster. Dann lausche ich angestrengt in die Nacht hinaus. Da ... wieder Schüsse. Woher kommen die? Wie viele sind es? Werden die gleich angreifen und das Dorf überrennen — oder sind es nur ein paar einzelne Heckenschützen, die uns Angst einjagen sollen?

Unterroffizier Blöm berät sich leise mit dem Wachmann. „Wer ist hier Scharfschütze?", fragt er dann in die Runde.

„Ich", höre ich mich sagen und erstarre.

Er mustert mich kurz mit undeutbarem Ausdruck. „Ans Fenster! Die Feinde im Auge behalten. Sofort schießen, wenn sich jemand nähert."

Ich schlucke und greife nach meinem Karabiner. Warum konnte ich denn nicht den Mund halten? Noch immer gellen vereinzelt Schüsse. Mit mechanischen Handbewegungen lade ich die Waffe.

Der Unteroffizier winkt Gerhard heran und schiebt ihm ein eilig bekritzeltes Blatt Papier zu. „Zum Kommandeur bringen und sofort mit neuen Befehlen zurückkehren! Dein Kumpel hier gibt dir Feuerschutz!" Er deutet auf mich.

Mir bleibt keine Zeit mehr, noch einen Blick mit Gerhard zu tauschen, da huscht er bereits aus dem Zimmer. Die Befehlsstelle befindet sich in einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ein paar Meter die Straße herunter. Die Dorfstraße liegt in vollem Mondlicht. Wie soll Gerhard da hinüberkommen? Mir wird eiskalt.

Ich knie seitlich neben dem Fenster und versuche, mich so einzurichten, dass ich nach draußen zielen kann, ohne selbst gesehen zu werden. Dann warte ich.

Wo sind die nur? Wo verstecken die sich? Alles, was man hört, sind Schüsse. Kein Mensch ist zu sehen. Ich richte meine ganze Aufmerksamkeit auf das Waldstück auf der gegenüberliegenden Seite hinter den Häusern. Die dunklen Schatten der Bäume wiegen sich leise im Wind, gaukeln mir vor, dazwischen bewegten sich Gestalten, aber ich kann mir nicht sicher sein. Von Gerhard ist ebenfalls nichts zu sehen. Wahrscheinlich hat er den Hinterausgang benutzt und schleicht sich jetzt im Schatten der Häuser weiter. Jedenfalls hoffe ich das. Meine Hände schmerzen, so fest halte ich das Gewehr.

Am Ende dieses JahresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt