Kapitel 1 - Der Pfeiler

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Falrey griff nach seinem Wasserschlauch. Es war nicht mehr viel darin, die vergangenen zwei Tage in sengender Hitze hatten ihn durstig gemacht und die Flasche an seinem Gürtel war längst leer. Er setzte die Öffnung an die Lippen und trank einige Schlucke, im Wissen, dass er sparsam mit dem Wasser umgehen musste. Bis zum Abend würde es noch lange dauern und erst wenn die Sonne unterging, ließ die Hitze nach. Während er den Schlauch wieder an seinen Rucksack band, blickte er zum Horizont. Dort, noch in weiter Ferne, erhob sich eine hohe Felsspitze aus der endlosen Ebene, die ihn umgab. Sie schien ihm kaum nähergekommen, seit er sie am Vortag das erste Mal erblickt hatte.

Mit beiden Händen hievte er sich den Rucksack auf den Rücken. Das Ding hatte ein gewisses Gewicht, aber in den vergangenen Wochen und Monaten hatte er sich so daran gewöhnt, dass er es kaum noch spürte. Er wischte sich die braunen Locken und den Schweiß aus der Stirn und setzte sich wieder in Bewegung. Sofort fiel er zurück in den Trott, der ihm mittlerweile zum ständigen Begleiter geworden war. Selbst nachts noch, wenn er im Massenschlag eines Gasthofes oder irgendwo in einem Gebüsch lag, spürte er dieses ständige auf und ab. Am Anfang hatten ihm seine Füße so wehgetan, dass er kaum schlafen konnte, und seine Stiefel waren schon nach den ersten Wochen nur noch Lumpen gewesen. Seither lief er barfuß.

Der Staub, den seine Schritte aufwirbelten, stieg um ihn auf und ließ ihn husten. Es war ihm suspekt. Der Boden war hart und die ganze Hochebene glich einer einzigen riesigen Steinplatte, die kein Ende zu nehmen schien und über der in der Mittagssonne die Hitze flirrte, dass man hätte Brot darauf backen können. Trotzdem war da dieser feine Staub, mitgetragen vom leisesten Lufthauch, der in alle Ritzen seiner Kleidung drang, unter den Rucksackträgern scheuerte und ihm das Atmen schwermachte.

Natürlich dauerte es nicht lange, bis der Durst zurück war. Allmählich begann er sich zu fragen, ob es wirklich eine kluge Idee gewesen war, allein in Richtung Niramun zu gehen, anstatt in Okni Hamida die nächste Gruppe von Händlern abzuwarten, wie man ihm geraten hatte. Doch er hatte nicht warten wollen. Seit Beginn seiner Reise war er nirgends länger als eine Nacht geblieben und das würde er bestimmt nicht ändern, so kurz vor seinem Ziel. Wenn er Niramun erst erreicht hatte, dann konnte er innehalten und nachdenken. Dann würde er weitersehen. Was zu tun war, wonach er Ausschau halten musste.

Die glühende Sonne wanderte langsam über den Himmel und der Felsenturm rückte näher, Konturen schälten sich nach und nach aus dem flimmernden Dunst, der über der Ebene hing, Muster und Unregelmäßigkeiten in den Hängen, die fast senkrecht aus der Felsplatte aufragten. Es mochte etwa in der Mitte der zweiten Hälfte des Tages sein, als Falrey begriff, dass sie nicht zufällig waren. Irritiert hielt er inne und kniff die Augen zusammen. Dieser Pfeiler in der Landschaft, auf den er den ganzen Tag zugehalten hatte, war alles andere als die blanke Felsspitze, für die er ihn gehalten hatte. Da waren Mauern, Türme. Nein, fuhr es ihm durch den Kopf. Das ist nicht möglich. So große Festungen gibt es nicht. Niemand konnte so etwas erbauen.

Er blinzelte und versuchte sich zu konzentrieren, doch die Luft flimmerte in der Hitze und verzerrte alles. Nachdem er einige Schlucke Wasser getrunken hatte, schien es ihm, als könnte er zwei Arten von Konturen ausmachen. Die einen schienen natürlicher Fels zu sein, sie waren gelblich grau, ihre Ecken und Kanten unregelmäßig und verworfen. Aber da waren auch Teile, die menschgemacht sein mussten, aus demselben Stein, doch mit geraden Linien und rechten Winkeln, wie sie niemals durch Wind und Wetter entstanden. Und diese Teile waren riesig, das erkannte Falrey selbst aus dieser Ferne. Sie auf einem Berg zu errichten, der kaum mehr war als eine Nadel, musste gewaltige Anstrengungen gekostet haben. Wer hatte das getan? Und warum?

Als er den Blick senkte, sah er eine kleinere Kontur in der Ferne vor dem Pfeiler, die sich beim Näherkommen als Handelszug entpuppte, der in die Gegenrichtung unterwegs war. Falrey gab den Ochsenwagen den Weg frei und musterte sie, während sie sich kreuzten: elegant gekleidete Händler auf den Kutschböcken, helles Tuch, das sich über aufgetürmte Waren spannte, Tagelöhner, die nebenherliefen. Er hatte viele solcher Reisegruppen gesehen in den vergangenen Monaten, und diese hier unterschied sich nicht von all den anderen, außer vielleicht in ihrer Größe und beiden Kamelen, die neben einem der Wagen herliefen. Falreys Blick blieb an den Tagelöhnern hängen, er blickte in ihre Gesichter, doch keines kam ihm bekannt vor. Als sie vorüber waren, schwenkte er zurück auf die Straße und richtete den Blick wieder nach vorne.

Niramun I - NachtschattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt