Wie immer nach der Arbeit zog er sich um und ging über den Platz zum Wirtshaus auf der anderen Seite, aber Jaz war nicht da, und er tauchte auch nicht auf, bis der Wirt schloss, und so machte er sich auf den Heimweg. Er bewegte sich vorsichtig, entlang der Schatten, immer darauf bedacht, in niemanden hineinzulaufen, und sämtliche Sinne auf seine Umgebung konzentriert. Zum einen, weil er durchaus davon ausging, dass Jaz ihm wieder einmal irgendwo auflauerte, um ihn beinahe umzubringen und ihn nachher für seine Unaufmerksamkeit zusammenzustauchen, zum anderen weil er sich nicht wirklich sicher war, ob die letzte Drohung den Typen von vorhin wirklich so beeindruckte hatte, wie es den Anschein gemacht hatte.
Aber keiner von beiden tauchte auf, und auch sonst behelligte ihn niemand. Einige Male kamen Leute an ihm vorbei, aber sie bemerkten ihn überhaupt nicht, wenn er in der Dunkelheit mit der Wand verschmolz, sondern wankten oder marschierten unbeirrt weiter. Nach einigen Schleifen, um etwaige Verfolger abzuschütteln, erreichte er Emilas Haus. Jaz hingegen kam nicht nach Hause.
Am folgenden Abend war Falrey auf der Hut, aber der Mann auf Agush schien Droge hin oder her klug genug zu sein, es nicht ein drittes Mal im selben Bordell zu versuchen, und seine Schicht verlief absolut ereignislos, genauso wie am Abend darauf, abgesehen davon, dass Jelerik einmal kurz vorbeisah und sie Yonay am Ende fast die Treppe hinauftragen mussten, weil sie zu viel Met selbst getrunken anstatt den Kunden angeboten hatte. Jaz blieb ebenfalls verschwunden. An beiden Abenden wartete Falrey im Wirtshaus auf ihn, aber niemand tauchte auf, während er inmitten von Alkoholikern und anderen verlorenen Gestalten ein Bier der letzten Runde trank, zahlte und sich schliesslich alleine auf den Heimweg machte. Er fragte sich, wo Jaz war. Ihm war klar, dass seine Abwesenheit mit dem Streit zwischen ihm und Emila zusammenhing, dessen Zeuge er unfreiwillig geworden war, dazu brauchte es wirklich keinen Hellseher, aber er fragte sich, wohin Jaz gegangen war, wenn er nicht zuhause schlief, und was er tat. Sich prügeln? Sich betrinken? Seinen Frust bei irgendeiner Hure tilgen? Oder konsumierte er am Ende noch ganz anderes als nur Tabak und Alkohol? Er hätte ihm alles davon zugetraut. Aber er traute Jaz auch zu, in einem Waisenheim ein Massaker zu veranstalten, wenn er ehrlich war.
So oder so, und obwohl er wusste, dass es sinnlos war, machte er sich Sorgen. Er hatte ein schlechtes Gefühl in der Magengrube, das er einfach nicht loswurde. Vielleicht, weil Jaz so zornig gewesen war, als er ging. Oder weil es nicht zu seiner üblichen Vorsicht passte, Falrey um diese Zeit alleine nach Hause gehen zu lassen ohne ihm vorher ein Dutzend Male einzuschärfen, dass er sich nicht verfolgen lassen durfte. Auf der anderen Seite hatte ihm Emila gesagt, Jaz sei früher öfters tagelang weggewesen. Was auch immer früher bedeutete. Ihm wurde bewusst, dass das vielleicht die einzige Information über ihre und Jaz Vergangenheit war, die Emila ihm gegenüber preisgegeben hatte, ohne sich in ein Lügenmärchen zu verstricken – gesetzt natürlich, sie stimmte überhaupt. Und gesetzt sie hatte wirklich in allem anderen gelogen. Denn dafür hatte er nichts als Jaz Wort und was garantierte ihm, dass nicht er log? Dein Leben ist eine Lüge, Ela! – Und deines etwa nicht?
Er fragte sich, was sie damit meinte. Emilas Lüge war offensichtlich, sie wollte nicht einmal sich selber gegenüber anerkennen, was Jaz tat, woher das Geld stammte, von dem sie beide lebten. Aber Jaz? Falrey hatte eine Menge gesehen, und Jaz hatte nie etwas davon geleugnet, höchstens manchen Leuten nichts davon erzählt. Und dass er umgekehrt in der Welt der Puppenspieler nicht herumposaunte, dass er eine Schwester hatte, war nichts anderes als Selbsterhaltungstrieb. War Emila am Ende so verblendet, dass sie Jaz allen Ernstes eine Lüge vorwarf, wenn er etwas erzählte, was sie nicht hören wollte? Oder ging es um etwas ganz anderes, das er überhaupt nicht verstand? Wieso mussten die beiden überhaupt so ein Drama darum machen? Wieso konnte man sich nicht einfach darauf einigen, den Nachbarn nichts zu erzählen, und fertig?
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Niramun I - Nachtschatten
FantasyNiramun, die ewige Stadt, Kessel und Spitze, ein Schmelztiegel am Rande der Wüste. Ein Ort ohne Herrscher und Gesetze, an dem das Schicksal eines Halbwaisen nur eines ist unter hunderttausenden. Auf der Suche nach seinem Vater landet Falrey mit kau...