Kapitel 8 - Mira

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Niramun war am Tag ganz anders als in der Nacht. Geschäftig liefen die Leute durch die Straßen, dann und wann mussten sie vor einem Karren zurückweichen, dessen Räder über die staubige Erde rumpelten. Die steinernen Häuser wirkten nun bei Tageslicht selbst dort, wo der Schatten des Pfeilers auf sie fiel, hell und freundlich – und sauber. Zwar lag überall in den Ecken etwas Unrat, und der untere Teil der Mauern war fleckig, doch es sah bei weitem nicht so heruntergekommen aus wie in den anderen Städten, durch die Falrey gekommen war. Nirgends lagen die Berge von Abfall, um die sich Hunde balgten, wie er es in Satrach gesehen hatte, und es stank lange nicht so nach Kot und Urin. Falrey glaubte zu wissen weshalb. Emila hatte ihm am vergangenen Abend einen kleinen Raum unter der Treppe zum ersten Stock gezeigt. Dort drin stand eine Art Truhe aus Stein. Wenn man den Deckel anhob, dann war darunter eine weitere Platte mit einer ovalen Öffnung. Dorthin, so sagte Emila, könne er sich erleichtern, wenn er müsse. Den unteren Teil der Truhe konnte man wie eine Schublade herausziehen, denn er stand auf Rädern, und alle paar Tage kam ein Wagen vorbei, der den Inhalt abholte und zu den Feldern brachte. In den Wäldern hatten sie auch mit ihrem eigenen Stuhl die Felder gedüngt, doch Falrey hätte niemals gedacht, dass das auch in einer Stadt funktionieren konnte, und Niramun war die größte Stadt, die er jemals gesehen hatte.

Und noch etwas war anders als nachts: Es war heiß. Nicht ganz so heiß wie oben auf der Ebene zwar, aber dennoch drückend genug, dass er schwitzte und genau so trocken. Mit der rechten Hand löste Falrey die Lederflasche von seinem Gürtel und trank einige Schlucke, bevor er in die Straße einbog, die rechts wegführte.

Wenig später gelangte er zu einem Platz mit einem dreieckigen Brunnen. Seltsames Gebilde, dachte er, während er vorbei ging. Das Grundprinzip war dasselbe, wie bei den anderen Brunnen, die Falrey hier gesehen hatte: An einer Seite stand eine Pumpe mit einem großen Hebel, den man auf und ab bewegen musste, damit aus dem Rohr, das daran angebracht war, Wasser lief, durch ein über dem Becken befestigtes Gitter plätscherte und das steinerne Bassin füllte – nur dass letzteres hier eben dreieckig war. Die drei Ränder waren alle verschieden lang und an jeder Ecke ragte eine kleine Säule auf, die oben zu einer Spitze zusammenlief. Im Becken befand sich kaum eine Handbreit Wasser, welches aussah, als stünde es schon lange unbewegt. Im Vergleich zu dem Platz, auf dem er auf Kreon gewartet hatte, war dieser hier seltsam leer. Auch in den Gassen waren mehr Leute gewesen als hier. Die Leere und der Brunnen gaben dem Platz etwas Unheimliches. Schnell ging Falrey weiter.

Die Gasse, in der der Laden sein sollte, war kaum zwei Schritt breit und die Luft darin erfrischend kühl. Er fand das richtige Haus auf Anhieb. Die gesamte Fassade war mit schwarzen Kringeln bemalt, vom Boden bis zur abgerundeten Dachkante, wie Emila gesagt hatte. Sie schienen sich zu ringeln im dämmrigen Licht. Wie Schlangen krochen sie über die Mauer und auch über die hölzerne Tür, die halb offen stand.

Behutsam trat Falrey ein. Drinnen war es ziemlich dunkel, nur durch ein kleines Fenster fiel ein wenig Licht, sodass Falrey zuerst gar nichts sehen konnte. Nach und nach schoben sich dann verschiedene Möbel aus der Dunkelheit, Regale mit Töpfen und Flaschen darauf, große Krüge am Boden und Tische, beladen mit seltsamen Geräten. Eine wuchtige Theke verlief quer durch den Raum. Dahinter stand eine Frau mit dunklen Locken, die ihr offen bis zu den Ellbogen hingen. Sie trug eine braune Bluse ohne Ärmel und lächelte Falrey freundlich an. Er schätzte, dass sie etwas über dreißig war. „Möchtest du etwas?", fragte sie mit einer warmen Stimme.
„Ja", antwortete Falrey und ließ seinen Blick über die Waren gleiten. „Ein Töpfchen Amastur, zwei mit Pelekernen und einen Bund Sandkraut. Dazu noch eine Stange Jasep. Ach ja, und zwei Dutzend Nulnüsse."

Die Frau hinter dem Tresen sah ihn nun interessiert an und begann die Waren abzufüllen. Der weite helle Rock, den sie trug, wehte hinter ihr her, als sie durch den Laden ging. Mit dem Rücken zu Falrey gewandt fragte sie: „Kann ich dich etwas fragen?"

Niramun I - NachtschattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt