Kapitel 72 - Vernunft

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Er klopfte an Mistys Tür. Ihm war bewusst geworden, wie lange er schon nicht mehr mit dem alten Mann gesprochen hatte, und er wusste zwar nicht, worüber er eigentlich sprechen wollte, aber Misty hatte da bestimmt eine Idee. „Herein", erklang seine Stimme und Falrey trat ein.

Misty sass ohne Holzbein am Tisch, in der Hand einen Löffel und vor sich die Schale mit Eintopf, die Emila ihm wohl früher am Tag hochgebracht hatte. „Setz dich", meinte er zu Falrey und wies auf den Stuhl gegenüber.

„Was macht das Bein?", fragte Falrey.

„Ahh", meinte Misty. „Die Tage ist es unangenehm, wenn die Temperatur so schnell fällt. Die Kälte ist egal, aber der Wechsel, der Wechsel..." Er schob sich einen Löffel Eintopf in den Mund. „Also, was liegt dir auf dem Herzen?"

„Nichts", meinte Falrey schulterzuckend. „Ich wollte nur mal wieder vorbeischauen und ein wenig plaudern."

„Ah, dann weisst du bloss noch nicht, was es ist, aber grundlos bist du bestimmt nicht hier", meinte Misty und deutete mit dem Löffel auf Falrey. „Gestern hat übrigens wer nach dir gefragt."

„Nach mir?", fragte Falrey überrascht. „Wer denn?"

„Das Mädchen vom Badehaus. Nemi heisst sie, glaub ich", antwortete Misty.

„Ah", meinte Falrey nur und seine Stimmung sank schlagartig.

Misty ass einen weiteren Löffel Eintopf und schluckte. „Kennst du sie gut?"

Falrey seufzte und stützte den Kopf in die Hände. „Erinner mich bitte nicht daran."

„Wieso?", fragte Misty mit schräggelegtem Kopf. „Nervt sie dich so?"

„Nein, das nicht", meinte Falrey gequält. „Aber..."

„Was aber?"

„Ich habe eh keine Chance bei ihr."

Misty runzelte die Stirn. „Mir scheint, wenn sie nach dir fragt, stehen die Chancen wohl nicht sehr schlecht."

„Ich korrigiere mich", meinte Falrey. „Ich habe keine Chance bei ihrem Vater."

„Das musst du auch nicht unbedingt", sagte Misty. „Wenn du sie für dich gewinnst..."

„Ich kann das nicht!", unterbrach ihn Falrey. „Ich meine, ich habe nichts! Keine Arbeit, kein Geld, kein Haus, kein Garnichts! Es wäre unfair, ihr irgendeine Sicherheit oder eine Zukunft vorzuspielen, die ich ihr nicht bieten kann."

„Stattdessen brichst du ihr lieber jetzt ihr kleines, gutes Herz, indem du ihr aus dem Weg gehst?", fragte Misty.

Falrey sprang auf. „Misty, hör auf! Es ist so schon schwer genug! Würde ich es denn irgendwie besser machen, wenn ich es jetzt zulasse? Es würde nur später tausendmal schlimmer!"

Misty machte eine beschwichtigende Handbewegung. „Setz dich wieder. Ich wollte dir keinen Vorwurf machen." Er seufzte. „Manchmal kann ich einfach nicht nachvollziehen, wie logisch du denkst."

„Und ich kann nicht nachvollziehen, warum andere Leute nicht so denken", sagte Falrey, während er wieder auf den Stuhl rutschte.

„Gefühlte", sinnierte Misty. „Sind meistens nicht sehr logisch."

„Ich fühle auch etwas, weisst du?", meinte Falrey trocken.

„Ja, aber..." Misty schien nach Worten zu suchen. „Du stellst deine Gefühle hinter deine Vernunft."

„Ist das etwa schlecht?", fragte Falrey.

„Ich weiss nicht", meinte Misty. „Machst du nie aus einem Gefühl heraus etwas, dass du nie tun würdest, wenn das Gefühl nicht wäre?"

Niramun I - NachtschattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt