Es war still, als er erwachte. Staubkörner glitzerten im Licht, das durch das offene Fenster einfiel. Er beobachtete ihren Tanz, der keinem Muster zu folgen schien, keinen Regeln. Es gibt keine Regeln, dachte er. Denn alles ist Chaos und Chaos ist das einzige, was bleibt. Die Stille war nicht wirklich so still. Im Grunde waren da die selben Geräusche wie immer. Stimmen, Schritte, Karrenräder, das Summen der Stadt. Alles war wie immer. Eigentlich.
Er rollte sich von der Matratze, stand auf und trat ans Fenster. Eine Weile stand er nur da und starrte auf die Strasse hinunter, ohne wirklich etwas zu sehen, bevor er sich abwandte und seine Kleider anzog. Er ging zur Tür und legte die Hand auf den Griff, aber er öffnete sie nicht. Stattdessen blickte er auf Jaz, der seine Wolldecke um sich gewickelt hatte, als wäre sie ein Schutzpanzer. Sein Umhang und sein Gürtel mit den vielen getarnten Taschen lagen zusammengefaltet neben seinen Stiefeln am Boden.
Falrey fragte sich, warum. Warum Jaz das tat. Zu trinken war eines. Zu viel zu trinken auch. Viele junge Leute hier taten das, um Spass zu haben, oder einfach weil sie nicht wussten, wie viel sie vertrugen. Aber das, was Jaz da tat, hatte nichts mehr mit Spass zu tun. Und er kannte sein Mass genau. Er wusste genau, wie viel er trinken durfte, um den Weg nach Hause noch zu finden. Und er wusste, dass Emila immer Martenbrand da hatte, um Wunden zu reinigen und Patienten zu betäuben. Falrey fiel ein, dass Jaz eigener Flachmann leer gewesen war. Hatte er deswegen zu Emilas gegriffen? Oder hätte er es auch sonst getan, einfach nachdem er seinen geleert hatte?
Er öffnete die Tür und schloss sie leise wieder hinter sich. Emila war in der Küche dabei ihren Korb zu richten, mit dem Rücken zur Tür. Sie konnte ihn nicht sehen, und er wusste, dass sie nicht ahnte, dass er hinter ihr stand. Einige Zeit lang beobachtete er sie nur, wie sie mit ruhiger Hand ihre Sachen so im Korb stapelte, dass alles Platz hatte. Im Herd brannte kein Feuer, über der Asche hing ein Topf, vermutlich mit kaltem Eintopf. Der leere Flachmann stand immer noch glitzernd an der Tischkante, genau so, wie er ihn zurückgelassen hatte, als hätte Emila ihn nicht einmal bemerkt.
Schliesslich löste er sich vom Türrahmen und trat in den Raum. Sie bemerkte ihn erst, als er neben ihr stand, und zuckte zusammen.
„Schleich dich nicht so an!", fuhr sie ihn an, aber er sah in ihrem Gesicht, dass es im Schreck heftiger geklungen hatte, als sie gewollt hatte.
Er setzte sich an den Tisch. „Ich habe mich nicht angeschlichen", sagte er. „Aber entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe."
Sie verstaute das letzte Paket Verbände und legte ein Tuch über den ganzen Korbinhalt, das sie an den Rändern hineinstopfte, um es zu befestigen. Dann blickte sie auf. „Magst du etwas zu essen?"
Er nickte und sie stellte ihm einen Teller kalten Eintopf hin. Während er ass, meinte sie: „Könntest du heute etwas für mich erledigen? Ich brauche einige Dinge von Mira, der Kräuterhändlerin. Kannst du die für mich holen?"
Er nickte und prägte sich alles ein, was sie aufzählte. Dann gab sie ihm Geld und fragte, ob er den Weg noch wusste. Er nickte wieder. Kein Wort über den leeren Flachmann, kein Wort über Jaz. War das auch eines der Dinge, worüber geschwiegen wurde? Falrey ass den letzten Löffel Eintopf und trug die Schale zur Ablage. Es gab in diesem Haus zu vieles, was nicht gesagt wurde, warum auch immer. Zu vieles, worüber man eigentlich hätte sprechen sollen. Also nahm er es selbst in die Hand. Er trat zum Tisch zurück und hielt den Flachmann hoch. „Soll ich den auch füllen lassen?"
„Ah ja, mach das", meinte Emila beiläufig, schon im Gehen begriffen.
Falrey starrte sie an. Wie konnte sie so tun, als wäre nichts? Hätte er beschreiben müssen, was er in diesem Moment empfand, hätte er nicht gewusst, ob es Unglauben war oder Wut über ihre Gleichgültigkeit. „Sag mal, interessiert es dich überhaupt nicht, warum er leer ist?"
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Niramun I - Nachtschatten
FantasíaNiramun, die ewige Stadt, Kessel und Spitze, ein Schmelztiegel am Rande der Wüste. Ein Ort ohne Herrscher und Gesetze, an dem das Schicksal eines Halbwaisen nur eines ist unter hunderttausenden. Auf der Suche nach seinem Vater landet Falrey mit kau...