Kapitel 48 - Der Hopfentopf

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Falrey folgte Jaz durch eine weitere, von Fackeln erhellte Gasse. Vier Tage waren vergangen seit Jaz Rache an Laflabem. Die Verwirrung in seinem Kopf hatte sich wieder etwas gelegt. Was geschehen war, war geschehen. Er war nicht in der Lage, Jaz zu verurteilen für das, was er getan hatte, denn er wusste nicht, was für einen Grund Jaz gehabt hatte, Laflabem so zu hassen, und deshalb wusste er auch nicht, ob er selbst an Jaz Stelle nicht genauso gehandelt hätte. Und noch viel weniger hätte er Jaz bestrafen können, wenn er ihn dafür verurteilt hätte, denn das stand schlicht und einfach nicht in seiner Macht.

Er erkannte, dass dies definitiv der Nachteil einer Stadt ohne Wache und Gesetze war: wenn jemand Gerechtigkeit wollte, musste er selbst zu unlauteren Mitteln greifen, um sie zu bekommen. So gesehen hatte Jaz mit der Ermordung Laflabems eine gute Tat begangen, schliesslich hatte er einen Mann getötet, der viele Leute hatte umbringen und terrorisieren lassen. Falrey seufzte. Das Problem an dieser Argumentation war, dass er genau wusste, dass es Jaz nicht um diese Leute gegangen war. Aber wie auch immer, Laflabem war tot, Jaz war und blieb wer er war, und Falrey musste sich wohl oder übel damit abfinden. Auch wenn es nicht einfach war.

Hinzu kam, dass er immer noch nicht wusste, was er tun sollte. Jaz hatte ihn gefragt, ob er weiterhin nach seinem Vater suchen wollte und Falrey hatte mit ja geantwortet, aber im Grunde wusste er, dass es aussichtslos war und dass er sich eine andere Zukunft suchen musste. Jaz Vorschlag, sich eine Arbeit zu suchen, einen Beruf zu erlernen, klang vernünftig, aber er musste zuerst genau darüber nachdenken und solange blieb ihm nichts anderes übrig, als Jaz zu begleiten. Er verstand zwar nicht, warum Emila es so wollte, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie nicht mit sich reden lassen würde.

Das hiess, am Anfang hatte er es verstanden. Sie wollte, dass Jaz nicht zu viel trank und sich nicht in irgendwelche Schlägereien verwickeln liess. Aber je länger er Jaz begleitete, desto unsinniger schien ihm diese Idee. Er konnte Jaz weder vom Trinken noch vom Prügeln abhalten, wenn der es darauf anlegte. Und die wirklichen Gefahren lauerten nicht in den Schenken, sondern in den nächtlichen Strassen, in Form von Auftraggebern, Widersachern und Opfern. Wusste Emila denn nicht, was Jaz nachts machte? Woher das Geld kam, das er nach Hause brachte? Jaz erzählte nichts davon, aber wenn sie nicht völlig bescheuert war, musste sie es fast erahnen nach den immer wieder blutbesudelten Kleidern und den zahlreichen Narben von Schnittwunden allein an seinen Unterarmen, die sie vermutlich behandelt hatte. Und wenn sie das wusste, dann musste ihr auch klar sein, dass es absolut sinnlos war, Falrey mitzuschicken. Sie gefährdete Jaz damit nur noch mehr, weil er in einem Kampf nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch dasjenige von Falrey schützen musste. Ausser sie erwartete, dass Jaz Falrey als lebendes Schutzschild benutzte oder als Ablenkung, damit er selbst fliehen konnte.

Falrey erschauerte. Er glaubte nicht, dass Emila so verdammt kaltblütig war. Wenn doch, dann wäre sie schlimmer als Jaz selber. Er schüttelte den Kopf. Emila war nicht so. Sie mochte manchmal komische Entscheidungen treffen, aber sie war gut. Besser als ein Grossteil der Leute, die er in seiner Kindheit gekannt hatte, wie ein verbissener Teil von ihm feststellte.

Dann lenkte etwas seine Gedanken ab. Irgendwo vor ihnen ertönte ein merkwürdiges Geräusch, das langsam lauter wurde, während sie die Strasse hinunter gingen. Falrey brauchte eine Weile, bis er erkannte, dass es Stimmen waren, hunderte von Stimmen, die durcheinander riefen und redeten. Irritiert runzelte er die Stirn. Es war doch Nacht? Nicht sehr spät, aber trotzdem Nacht, und sie waren nicht in der Nähe des Tuchmarktes.

Die Gasse beschrieb eine Kurve und Falrey blieb der Mund offen stehen. Vor ihnen eröffnete sich ein weiter, kreisrunder Platz, von Fackeln nicht nur an den Wänden, sondern auch in der Mitte hell erleuchtet, mit Massen von ausgelassenen Menschen darauf. Jedes einzelne Haus um den Platz herum schien ein Wirtshaus zu sein, mit hell beleuchteten Fenstern, Stimmen johlten und lachten und sangen. Von Norden und Süden mündete eine breite, schnurgerade Strasse in den Platz, die der Lage nach die Min-Speiche sein musste. Falrey starrte mit weit aufgerissenen Augen ringsumher, um alles in sich aufzunehmen, diese Welt aus Flammen, Stimmen und Menschen. „Was ist das?", fragte er fast ehrfürchtig.

Niramun I - NachtschattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt