Kapitel 77 - Klein, schwach und unfähig

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Auch an den folgenden Abenden holte Jaz Falrey ab. Er attackierte ihn wieder aus dem Hinterhalt, aber beim dritten Mal spürte Falrey ihn, einen Augenblick bevor er ihn erwischte. Instinktiv fuhr er herum und lenkte die Hand, die nach ihm packte, mit dem Unterarm ab, drehte sich und schlug mit der anderen Faust zu. Jaz blockte ihn ab und trat, aber Falrey wich aus und duckte sich unter einem weiteren Schlag hindurch, bevor er mit einem Sprung Abstand gewann.

„Gut", sagte Jaz und ein Grinsen spielte um seinen Mundwinkel. „Jetzt musst du das nur noch fertig bringen, wenn du nicht weisst, dass ich es bin."

Er zündete sich ein Schilf an. „Das nach dem Wegspringen wär übrigens der Moment gewesen, um dein Messer zu ziehen. Hast du die Klamotten dabei?"

Falrey nickte und klopfte sich auf die Weste, in die er sie geschoben hatte. Die Stiefel baumelten an seinem Gürtel. Am Vortag hatte er vergessen sie mit zu nehmen, aber diesmal hatte er daran gedacht.

„Und, ist was passiert?"

Falrey schüttelte den Kopf, der Abend war so ereignisreich, respektive ereignislos gewesen wie die vorangehenden.

Sie gingen eine Weile schweigend, dann fragte Falrey: „Wie lange hast du eigentlich gewartet, um mich abzufangen?"

„Etwa eine Zeit, vielleicht anderthalb", meinte Jaz achselzuckend.

„Und was hast du sonst so gemacht?"

„Nicht viel."

Falrey verkniff sich ein Grinsen über so viel Gesprächigkeit.

Sie kehrten mehr oder weniger auf direktem Weg nach Hause zurück und legten sich schlafen. Jaz weckte Falrey vor dem Mittag und liess sich von ihm die Arbeitskleider geben. Er legte sie auf dem Tisch aus und prüfte sie mit scharfem Blick, dann tippte er auf eine Stelle an der Hüfte. „Hier."

Sie warteten, bis Emila vom Einkauf zurückkehrte und Jaz bat sie an der Stelle eine Ledertasche einzunähen, so dass man sie nicht sah, dann gingen sie auf das Dach, um zu trainieren. Das Mädchen, das sie beobachtete, stand nach einiger Zeit wieder da, verschwand aber gleich wieder auf einer Leiter, nur um nach einer Weile wieder aufzutauchen, nun allerdings nicht mehr allein, sondern einen älteren Jungen hinter sich herziehend. Sie setzten sich auf eine Stufe im Dach und sahen ihnen zu. Jaz ignorierte sie, daher blieb Falrey nichts anderes übrig, als es auch zu tun, und nach einer Weile vergass er sie, denn er brauchte seine Konzentration für das Training. Allmählich konnte er spüren, wie Jaz langsam begann, mit einfachen Angriffen und Abwehren, und dann allmählich aufdrehte, immer schneller und härter wurde, je länger er sich gegen ihn halten konnte. Es tat immer noch weh, aber mit jedem Block, jedem Schlag, den er hinbekam, selbst wenn er Jaz nicht traf, fühlte er sich besser. Er wusste, dass er stärker wurde, mit jedem Tag, und es war ein verdammt gutes Gefühl, ein neues Gefühl, das Gefühl, etwas zu können, das Gefühl, jemand zu sein.

Als sie wieder hinunter gingen, war Emila fertig mit Nähen. Jaz befahl Falrey, die Kleider anzuziehen und das Messer hineinzustecken, betrachtete ihn von allen Seiten und befand das Resultat für gut. Der Griff des Messers ragte etwa zwei Finger breit aus der Tasche, so dass Falrey es leicht mit den Fingern packen und ziehen konnte, aber durch seine dunkelrote Farbe fiel er nur auf, wenn man genau hinsah. Emila stand daneben und sah zu, aber sie stellte weder Fragen noch sagte sie etwas. Falrey fragte sich, was sie dachte, ob sie ahnte, wofür er die Kleider und den Dolch brauchte, oder ob sie sich etwas ganz anderes vorstellte, aber er widerstand der Versuchung, sie so lange anzustarren, bis er es wusste.

Er ass etwas, dann brachen sie auf und als sie das Bordell erreichten, meinte Jaz, er würde diesmal in der Schenke auf der anderen Seite des Platzes auf ihn warten. Falrey zog sich um, füllte die Öllampen im Empfangsraum nach und wartete, bis sich die Mädchen bereit gemacht hatten, dann schloss er die Haupttüre auf, zündete die Laterne draussen an und stellte sich an seinen Platz an der Wand, in einer möglichst bequemen Haltung, um das Geschehen zu beobachten.

Niramun I - NachtschattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt