Kapitel 64 - Nemi

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Er erwachte erst am späten Nachmittag und stellte fest, dass er alleine im Raum war. Leise schlich er nach unten, um sich zu vergewissern, dass Emila nicht da war, denn er wollte ihr nicht erklären, was mit seiner Nase passiert war, auch wenn sie mittlerweile sehr viel weniger geschwollen war. Emila hatte ein zu gutes Auge dafür.

Sie war weg und er ass etwas Eintopf, doch als er sich einen Becher Wasser einschenken wollte, stellte er fest, dass die Eimer mal wieder leer waren. Eigentlich fast fahrlässig, dass so oft kein Löschwasser im Haus war. Er nahm die Eimer, schloss hinter sich ab und machte sich auf den Weg zum Brunnen. Als er den ersten Eimer auf den Gitterrost stellte und begann zu Pumpen, trat das Mädchen aus Eiruns Badehaus zum Brunnen. Sie trug einen knielangen, beigen Rock und eine blaue Bluse und trug ebenfalls zwei Eimer. Irgendwie schien sie Falrey kleiner geworden zu sein, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. „Hallo", sagte er.

Sie lächelte und meinte ebenfalls: „Hallo. Wie heisst du?"

„Falrey", antwortete er und stellte den zweiten Eimer auf das Gitter.

„Ich bin Nemi", sagte das Mädchen. Falrey sah sie an, während er den Eimer füllte. Sie hatte mandelförmige Augen mit einer dunkelbraun glänzenden Iris und lange Wimpern, ihre Augenbrauen waren so dunkel wie ihre Haare, ihre Nase leicht stupsig, ihre Lippen voll. Sie sahen weich aus.

Falrey schob den letzten Gedanken aus seinem Kopf und hob seinen Eimer vom Gitter. Sie stellte ihren darauf, aber als sie zum Pumphahn greifen wollte, kam er ihr zuvor. „Lass, ich mach schon."

„Du wohnst bei Emila, oder?", fragte sie.

„Ja", antwortete er.

„Bist du ihr Bruder?"

„Nein, ihr Cousin", antwortete er automatisch, dann fiel ihm ein, dass er Misty ja alles erzählt hatte und er fügte zögernd hinzu: „Oder sowas ähnliches. Genau genommen bin ich nicht mit ihr verwandt."

„Misty sagt, du kommst aus dem Wald, von weit her. Aber Misty sagt vieles", sagte sie mit einem feinen Lächeln.

„Diesmal hat er Recht", antwortete Falrey. Dann fiel ihm auf, dass der Eimer längst überlief. „Oh, Entschuldigung", sagte er, hörte auf zu pumpen und wurde rot.

„Macht nix", meinte sie und wechselte die Eimer aus.

„Eirun ist dein Vater?", fragte er, um irgendetwas zu sagen.

„Ja", antwortete sie. „Was ist mit deinen Eltern?"

Er zögerte, denn er wusste nicht, ob er ihr die Wahrheit sagen sollte. Schliesslich tat er es doch. „Meine Mutter ist gestorben, meinen Vater kenne ich nicht."

Unsicher sah er sie an und bereitete sich innerlich darauf vor, zu sehen wie in ihrem Gesicht die Verachtung erschien, die ihn sein ganzes Leben begleitet hatte und die er so lange nicht verstanden hatte. Er verschloss seine Ohren und versuchte sich zu wappnen gegen das Wort, das er nie wieder hören wollte, in der Hoffnung, es würde dann weniger wehtun.

Aber sie sagte es nicht. Da war keine Verachtung. Nur so etwas wie Bestürzung, aber nicht über einen gemachten Fehler, sondern aus Mitleid. „Dann bist du ganz allein? Ich dachte, Misty hat nur wieder ein Märchen erzählt, aber dann stimmt es, dass du überhaupt keine Verwandten hast?"

Falrey fragte sich, was Misty genau erzählt hatte, aber soweit klang es stimmig. Er sah Nemi in die Augen und sah darin solches Mitgefühl, dass er sich selber leid tat. Dann hörte er Jaz Stimme in seinen Gedanken, wie sie ihm zuflüsterte, was für eine verweichlichte Heulsuse er war, und er hätte sich am liebsten geschlagen.

Niramun I - NachtschattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt